top of page
  • AutorenbildWalter Gasperi

"Schwedische Nouvelle Vague" der 60er Jahre: Bo Widerberg und Jan Troell


Elvira Madigan (Bo Widerberg) (c) Swedish Film Institute

Oft wird das schwedische Kino mit Ingmar Bergman gleichgesetzt. Doch neben diesem dominanten "Jahrhundertregisseur" debütierten in den 1960er Jahren junge Regisseure, die eigene, entschieden andere Wege gingen. Mit Bo Widerberg und Jan Troell widmet das Österreichische Filmmuseum zwei zentralen Vertretern dieser "schwedischen Nouvelle Vague" eine im September und Oktober Retrospektive.


Aufsehen erregte Bo Widerberg (1930 – 1997) erstmals als Filmkritiker, als er 1962 im Essayband "Vision im schwedischen Film" die Filme Ingmar Bergmans als "vertikales Kino" attackierte, das mit seinen Mythen völlig realitätsfern sei. Deutlich beeinflusst von der französischen Nouvelle Vague setzte Widerberg seine Idee vom "horizontalen Kino" dann mit seinem ersten Spielfilm "Barnvagen" ("Kinderwagen") ein Jahr später um. In der Nachfolge von Jean-Luc Godards "A bout de souffle" erzählt der Schwede darin spontan und frei von einer schwangeren jungen Frau, die beschließt weder den Vater des Kindes noch einen Bürgerssohn zu heiraten, sondern unabhängig zu bleiben.


Mit "Kvarteret Korpen" ("Das Rabenviertel") folgte nur ein Jahr später ein historischer Film über eine kleinbürgerliche Familie im Schweden der Zeit der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre. Interesse für historische Themen und fürs Arbeitermilieu kennzeichnen auch spätere Filme Widerbergs wie "Adalen 31" (1969), in dem ein Streik in Nordschweden im Jahr 1931, bei dem fünf Demonstranten getötet wurden, nachgezeichnet wird, und den in den USA entstandenen "Joe Hill" (1971). In letzterem widmet sich Widerberg dem Leben des Schweden Joel Hillström, der 1902 in die USA auswanderte, populärer Sänger und Anführer der Arbeiterbewegung wurde, bis er 1915 als "Unruhestifter" zum Tode verurteilt und hingerichtet wurde. In ihrem malerischen Stil und ihrer romantischen Ausschmückung unterscheiden sich diese Filme aber auch deutlich von der "rohen, skizzenhaften Energie von 'Das Rabenviertel'" (Esther Buss).


Während Widerberg in "Kärlek 65" ("Roulette der Liebe", 1965) mit einem Filmregisseur als Protagonisten sich selbstreflexiv mit seiner eigenen Arbeit auseinandersetzt, erzählt er in "Elvira Madigan" (1967) in lyrischen Bildern von der unmöglichen Liebe zwischen einer Seiltänzerin und einem desertierten Soldaten im Dänemark des späten 19. Jahrhunderts.


Belegen schon diese Filme die Vielseitigkeit des Schweden, so wird dieses Bild noch erweitert und bekräftigt durch den Kinderfilm "Fimpen" ("Fimpen, der Knirps", 1974), in dessen Mittelpunkt ein Fußball-Wunderkind steht, und den Polizeithriller "Mannen pa taket" ("Der Mann auf dem Dach", 1976), in dem Kritik an der Korruption einer selbstzufriedenen älteren Generation sozialdemokratischer Politiker geübt wird.


Zunehmend schwieriger wurde es für Widerberg in den folgenden Jahren seine Projekte zu finanzieren, sodass er vorwiegend fürs Fernsehen arbeitete. Ausnahmen stellen die Literaturverfilmung "Victoria" (1979) und die Krimis "Mannen fran Mallorca" ("Der Mann aus Mallorca, 1984) und "Ormens väg pa hälleberget" ("Der Weg der Schlagen aus dem Felsen", 1986) dar. Seinen letzten Spielfilm drehte er nach fast zehn Jahren Kinopause 1995, zwei Jahre vor seinem Tod. Mit dem während des Zweiten Weltkriegs spielenden "Lust och fägring stor"" ("Schön ist die Jugendzeit") entstand dabei wiederum ein historischer Film, in dem mit der leidenschaftlichen Beziehung zwischen einem 14-jährigen Schüler und seiner mehr als zwei Jahrzehnte älteren Lehrerin wiederum wie in "Elvira Madigan" von einer unmöglichen Liebe erzählt wird.


Der 1931 geborene Jan Troell arbeitete zuerst neun Jahre lang als Lehrer, wurde dann Kameramann, unter anderem bei Widerbergs Debüt "Barnvagen", und Schnittassistent. Ab 1961 drehte er selbstständig Kurzfilme, 1966 folgte mit "Här har du ditt liv" ("Hier hast du dein Leben") sein erster Langspielfilm, bei dem er wie auch bei seinen späteren Filmen nicht nur für Regie, sondern auch für Kamera und Schnitt verantwortlich zeichnete.


In diesem Anfang des 20. Jahrhunderts spielenden filmischen Entwicklungsroman erzählt Troell vom jungen Olof, der sich zunächst als Flößer und Sägewerksarbeiter durchschlägt, später von einem Kinobesitzer als Plakatkleber angestellt wird. Mit der individuell-psychologischen Entwicklung Olofs geht dabei eine politische einher, die dazu führt, dass er versucht eine Gewerkschaft zu gründen und einen Streik zu organisieren.


Vermutlich autobiographisch geprägt ist der auf 16mm gedrehte «Ole dole doff" ("Raus bist du", 1968), in dem Troell von einem Lehrer erzählt, der an der subtilen Tyrannei seiner Schüler zerbricht. Im Gegensatz zu diesem kleinen Film nahm das zweiteilige und insgesamt über fünfstündige Auswandererepos "Utvandrarna" ("Emigranten", 1971) und "Nybyggarna" (Das neue Land» (1972) eine lange Drehzeit in Anspruch.


Während sich der erste Teil dieser Geschichte verarmter schwedischer Bauern, die 1848 nach Amerika auswandern, auf die unerträglichen Lebensverhältnisse in Schweden konzentriert, stehen im zweiten die Erlebnisse in den USA im Mittelpunkt. Troell verzichtet auf alles Spektakuläre, widmet sich dafür ausführlich und in ruhigem Erzählrhythmus der Schilderung des Alltags und lässt den Zuschauer aus der Perspektive – und mit ihrer eingeengten Sicht – die Welt und die Veränderungen um sie herum wahrnehmen.


Wie die Protagonisten dieses Films ihr Glück in der Neuen Welt suchten, so wagte auch Troell den Sprung in die USA. Mit Gene Hackman und Liv Ullmann in den Hauptrollen drehte er 1974 "Zandy´s Bride". Mit dieser in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts spielenden Geschichte um einen rauen Viehzüchter und seine zarte Frau knüpfte er zeitlich, aber auch in der ausführlichen Schilderung der Natur an "Emigranten" und "Das neue Land" an. Die Natur ist auch einer der Protagonisten von "Hurricane" (1979), einem Remake eines John Ford-Films von 1937. In dem auf Samoa 1920 angesiedelten Film wird vor dem Hintergrund eines aufziehenden Hurricanes von der leidenschaftlichen Liebe zwischen einem Häuptling und der Tochter des US-Gouverneurs erzählt.


Nach dem Misserfolg dieses Katastrophen- und Liebesfilms kehrte Troell in seine Heimat zurück und zeichnete 1981 in "Ingenjör Andrées luftfärd" ("Der Flug des Adlers") einen 1897 gescheiterten Versuch den Nordpol mit einem Heißluftballon zu überfliegen filmisch nach. Menschlicher Hybris und Technikgläubigkeit stellt Troell dabei die Schönheit, aber auch die Schrecken einer auf Dauer unüberwindbaren Natur gegenüber. Kritik an der gegenwärtigen schwedischen Gesellschaft übte er in der filmischen Langzeitstudie "Sagolandet" ("Das Märchenland", 1988), in der er erkunden wollte, in welcher Welt seine 1983 geborene Tochter aufwachsen würde. Troell selbst bezeichnete diesen Film später als den für ihn wichtigsten.


Nach "Il Capitano" (1991), der auf einer wahren Begebenheit beruhenden Tragödie um ein junges, gegen die Umwelt revoltierendes Pärchen, das einen Jungen und dessen Eltern tötet, wandte sich Troell wieder der Vergangenheit zu. 1996 entstand das Biopic "Hamsun" über das Leben des umstrittenen norwegischen Schriftstellers und Literaturnobelpreisträgers, 2001 mit "Sa vit som en snö" ("So weiß wie Schnee") die Lebensgeschichte Elsa Anderssons.


Mit einem Budget von 43 Millionen Euro drehte er 2008 mit "Maria Larssons eviga ögonblick" ("Die ewigen Augenblicke der Maria Larsson") sein größtes Projekt seit "Die Emigranten" und "Das neue Land". Wie "So weiß wie Schnee" spielt auch dieses Drama im Malmö des beginnenden 20. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht eine in ärmlichen Verhältnissen lebende siebenfache Mutter, die beim Lotto eine Kamera gewinnt, die für sie zum Mittel der Emanzipation wird.


Während des Zweiten Weltkriegs spielt dagegen Troells letzter Film "Dom över död man" ("Das letzte Urteil", 2012), in dem der Schwede auf dem Journalisten Torgny Segerstedt fokussiert, der wegen entschiedener Kritik an Adolf Hitler auch den Unmut der um Neutralität bemühten schwedischen Behörden auf sich zog.


Detaillierte Filmbeschreibungen und Spieltermine finden Sie hier. - Zum Auftakt der Retrospektive wird Jan Troell am 9. und 10. September im Filmmuseum auch persönlich zu Gast sein.



bottom of page