Nach erfolgreichen Fotoserien und Kurzfilmen über seine alkoholkranken Eltern widmet sich Richard Billingham auch in seinem ersten Spielfilm der Schilderung des Alltags seiner britischen Unterschichtfamilie in einem Vorort von Birmingham in den frühen 1980er Jahren. Entstanden ist dabei ein quasidokumentarisches, dichtes Drama, das durch seine Detailgenauigkeit und den schonungslosen, aber nie verurteilenden Blick packt.
Beklemmend eng ist die Ein-Zimmer-Wohnung, in der der alternde Ray in einem Hochhaus im Großraum Birmingham lebt. Das 4:3-Format verstärkt noch das Gefühl der Enge. Nie verlässt Ray seine Wohnung, steht scheinbar nur auf, um zur Toilette zu gehen oder aus den großen Petflaschen selbst gebrauten Alkohol zu trinken. Randvoll füllt er das Glas jeweils und trinkt es dann mit seinen zittrigen Händen in einem Zug leer.
Versorgt wird Ray mit diesem Stoff von seinem Nachbar Sid, der immer wieder mal bei ihm vorbeischaut. Beim Blick aus dem Fenster auf den Abendhimmel kommen Erinnerungen hoch und in zwei Rückblenden, die unterbrochen sind von einer Szene in Rays jetziger Wohnung, bietet Richard Billingham Einblick in seine eigene Kindheit mit diesem Vater (Justin Salinger) und seiner Mutter Liz (Ella Smith).
Wohnt die Familie in der ersten Rückblende noch in einem kleinen Backsteinhäuschen, wird an dessen Stelle in der zweiten eine ziemlich versiffte Arbeiterwohnung treten. Sechs bis sieben Jahre liegen zwischen den beiden Szenen, etwa neun Jahre ist Richard in der ersten Rückblende alt, sein jüngerer Bruder Jason etwa zwei Jahre.
Dieser Jason steht im Mittelpunkt, ihm gilt das ganze Mitgefühl des Films, Richard bleibt dagegen eine Randfigur. Kaum einmal verlässt der Film dabei den Wohnraum, fängt mit bestechendem Blick für Details die Wohnverhältnisse ein von den schäbigen Blümchentapeten und Tierpostern über die verdreckte Küche bis zu den zahlreichen Haustieren, zu denen nicht nur Hund, Kaninchen, Kanarienvogel und Hamster gehören, sondern auch Schnecken. Größte atmosphärische Dichte entwickelt „Ray & Liz“ durch diese Detailgenauigkeit ebenso wie durch penible Ausstattung mit alten Kleider, einem Kassettenrekorder, einem Fernseher oder ersten Videospiele.
Aus dieser phänomenalen Evokation einer Zeit und der Lebensumstände heraus entwickelt Billingham, der 1996 mit der Fotoserie „Ray´s A Laugh“, in der er seinen Vater und seine Mutter porträtierte, berühmt wurde, die Erzählung. Schonungslos ist sein Blick, aber nicht verurteilend. Er zeigt die Verhältnisse, wie sie sind, betreibt keine Ursachenforschung, klagt aber indirekt doch das Versagen des Sozialstaates an.
Nichts erfährt man darüber, wieso die Billinghams in diese Lage gekommen sind, offenbar hat Ray aber seinen früheren Job verloren, wird doch von einer Abfindung gesprochen. Solidarität gibt es aber auch innerhalb der Familie und der sozial Schwachen nicht. Wenn nämlich ein Nachbar im Teenageralter in der ersten Rückblende mit seinem Moped vorbeikommt, nützt er die Abwesenheit der Eltern aus, um dem geistig zurückgebliebenen Onkel Lawrence, der auf den kleinen Jason aufpausen soll, übel mitzuspielen.
Er füllt Lawrence nicht nur mit Hochprozentigem ab, sondern beschmiert zudem Jason mit Schuhcreme und gibt dem Kind ein Tranchiermesser in die Hand. – Die Rechnung dafür bezahlt freilich Onkel Lawrence, auf den Mutter Liz nach ihrer Rückkehr mit ihrem Schuh brutal einschlägt.
Sind Ray und die schwer übergewichtige Liz in dieser ersten Rückblende noch einigermaßen aktiv, so sieht man sie in der zweiten Rückblende fast nur noch stockbesoffen im Bett liegen und schlafen oder Liz beim Rauchen, während sie versucht ein Puzzle zusammenzustellen.
Ganz sich selbst überlassen sind hier der inzwischen etwa neunjährige Jason und sein sechszehnjähriger Bruder Richard. Wie zuvor William Lawrence missbrauchte, so verleitet nun Richard Jason zu einem bösen Scherz, wenn er den kleinen Bruder dazu anregt, Chilipulver in den offenen Mund des schlafenden Vaters zu streuen.
Nicht frei von grimmigem Witz ist dieser Film, der in seinem autobiographischen Charakter auch an Terence Davies Debüt "The Terence Davies Trilogy" (1984) erinnert. Wie anders eine Kindheit und ein Familienleben aussehen könnten, erfährt Jason erst, als er nach einem Lagerfeuer mit Freunden in einem Schuppen übernachtet, weil er in der Dunkelheit nicht mehr den Weg nach Hause findet. Seine Eltern vermissen ihn nicht, völlig unterkühlt finden ihn Fremde und übergeben ihn der Mutter seines Freundes.
Erstmals erfährt der Junge hier, was Fürsorge, mütterliche Nähe und Wärme sein können, wird umsorgt und mit Decken zugedeckt, schaut ungläubig auf das Kinderzimmer, ist ganz begeistert von einem Videospiel.
Dass er nun zu Pflegeeltern kommt, ist für ihn kein Problem, sondern eine Erlösung, die Sorge von Ray und Liz ist nur, dass sie nun 25 Pfund weniger Sozialunterstützung pro Woche bekommen, und für den wohl erschütterndsten Moment sorgt Richard, wenn er mit traurigen Augen den Beamten fragt, ob er nicht auch zu Pflegeeltern könne, und ihm erklärt wird, dass er doch bald erwachsen sei und bis dahin noch durchhalten müsse.
Billingham beschönigt in diesem auch perfekt gecasteten und mit größter Natürlichkeit und ohne Angst vor dem Hässlichen gespielten Debüt nichts, klagt aber auch nicht seine Eltern an, führt sie nicht vor, sondern lässt im letzten Bild, das das Ehepaar in früheren Tagen zeigt, ahnen, dass sie einst glücklich waren.
Implizit fragt „Ray & Liz“ so, wie es zu diesem Niedergang kommen konnte. Die Welt außerhalb der Familie spart der Brite aber aus, zeigt keine Veränderung in der Arbeitswelt, lässt aber doch ahnen, dass soziale Einsparungen der Thatcher-Ära zu diesem Leben nicht am Rande, sondern außerhalb der Gesellschaft führten.
Die weitgehende Abwesenheit des Staates ist Teil der Aussage, macht deutlich, dass in diesen neoliberalen Zeiten es kaum mehr ein Fangnetz für solche Familien gibt und sie fast zwangsläufig immer tiefer im Sumpf von Alkoholismus und Dumpfheit versinken. – Und wenn die Kamera dabei in einer Einstellung von der Wohnung der Familie zurück fährt und den Blick auf das ganze Hochhaus öffnet, dann kann man ahnen, dass das Leben der Billinghams exemplarisch für das Schicksal vieler Menschen - wohl nicht nur in England - steht.
Läuft derzeit im Kinok, St. Gallen
Trailer zu Ray & Liz
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