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  • AutorenbildWalter Gasperi

Presque – Glück auf einer Skala von 1 bis 10


Der verschlossene Leichenbestatter Louis und der philosophisch gebildete, aber durch eine zerebrale Lähmung körperlich beeinträchtigte Igor sind ein ungleiches Duo, doch auf einem Leichentransport von Lausanne nach Südfrankreich kommen sie sich näher: Bernard Campan und Alexandre Jollien gelang ein herzerwärmendes Roadmovie, in dem dank der blendend harmonierenden Hauptdarsteller und punktgenauer Inszenierung leichthändig Fragen von Leben und Tod, Ängsten und Lebensglück verhandelt werden.


Nicht gerade neu ist der Plot von einem ungleichen Duo, das sich aneinander reibt und sich im Laufe einer Reise näher kommt. Dennoch gelingt es dem französischen Regisseur und Schauspieler Bernard Campan und dem Walliser Philosophen Alexandre Jollien ihr Roadmovie, das bei den heurigen Solothurner Filmtagen den Prix du public gewann, neu und frisch wirken zu lassen. Das liegt zweifellos auch daran, dass sich Campan und Jollien schon seit 2004 kennen, befreundet sind und folglich bestens harmonieren.


Während Campan schon mit seinem Regiedebüt „Les trois frères“ in den 1990er Jahren einen Publikumserfolg landete und einen César für den besten Erstlingsfilm gewann, sich dann aber weitgehend aufs Schauspiel verlegte, ist der Philosoph und Schriftsteller Jollien hier erstmals in ein Filmprojekt involviert. Dass der Walliser mit seiner zerebralen Lähmung viel von seiner eigenen Persönlichkeit und eigene Erfahrungen in den Film einbringen kann, trägt dabei nicht unwesentlich zur beglückenden Natürlichkeit und Echtheit von „Presque“ bei.


In Parallelmontage werden die beiden Protagonisten vorgestellt. Auf der einen Seite steht der verschlossene Bestatter Louis (Bernard Campan), der sich um effiziente und korrekte, sachlich nüchterne Erledigung der Bestattungen bemüht, auf der anderen Seite der weltoffene Igor (Alexandre Jollien), der mit seinem Dreirad Bio-Gemüse ausfährt.


Ein kleiner Unfall führt sie zusammen, doch während für Louis die Sache nach ärztlicher Versorgung Igors erledigt ist, versucht dieser den Kontakt aufrecht zu erhalten und sucht Louis in seinem Unternehmen auf. Fasziniert vom Beruf des Bestatters, probiert er auch gleich mal einen Sarg aus, um eine “metaphysische Erfahrung zu machen” – und findet sich, als er erwacht, auf der Fahrt eines Leichentransports nach Südfrankreich.


Rasch will Louis diesen Begleiter, der sich „presque – beinahe“ normal fühlt, aber doch wegen seiner körperlichen Beeinträchtigung an einem Minderwertigkeitskomplex leidet, loswerden. Weil er Bewegungen der Arme, der Beine und des Kopfs nur schlecht koordinieren kann und sich beim Gehen und Essen somit schwertut, glaubt Igor abstoßend zu sein und von niemandem geliebt zu werden. Keine Zuneigung hat er auch im Heim erfahren, in dem er 20 Jahre lang verbrachte. Vorhersehbar ist aber, dass sich dies im Laufe der folgenden 90 Filmminuten ändern wird.


Langsam kommen sich nämlich nicht nur die beiden Männer näher, sondern Igor wird auch die körperliche Zärtlichkeit einer Frau erfahren. So wird einerseits sein Selbstwertgefühl wachsen und er wird lernen mit seinen Ängsten vor Krankheiten umzugehen. Gleichzeitig führen seine Offenheit und Herzlichkeit aber auch zu einer zweiten Geburt von Louis. Langsam wird dessen emotionaler Panzer schmelzen und er wird schließlich auch Schuldgefühle offenbaren.


Zügig und dicht treiben Campan / Jollien mit prägnanter Bildsprache und punktgenauem Schnitt die Handlung voran. Von unauffälliger Eleganz ist die Inszenierung, die schon mit den in warme Farben und warmes Licht getauchten Bildern Wohlgefühl und Empathie verbreitet. Herzstück des Films sind aber die beiden von den Regisseuren selbst gespielten Protagonisten.


Wird schon am Beginn mit dem Beruf des Bestatters mehrfach die Frage nach der Existenz Gottes angeschnitten, so ist durch diesen Beruf und den Leichentransport die Frage von Leben und Tod ständig präsent. Die Dialoge bieten dabei Igor, der eine ganze Bibliothek im Kopf zu haben scheint, Raum, auch immer wieder Philosophen von Platon über die Stoiker und Epikur bis zu Montaigne, Spinoza und Nietzsche zu zitieren. Nie wirken diese Anmerkungen aber aufgesetzt, sondern sind perfekt in die Dialoge integriert und kommen wunderbar locker herüber, sodass sie gleichermaßen zum Nachdenken wie zum Schmunzeln anregen.


Souverän versteht es das Duo auch das Erzähltempo zu kontrollieren, zwischen Fahrtszenen durch die malerische Westschweizer und französische Landschaft und Gesprächen zu wechseln. Dazu kommt der empathische Blick auf diese lädierten Figuren, die langsam auftauen, bis Louis Igor offen als seinen Freund bezeichnet.


Da kann man natürlich beklagen, dass diese Komödie allzu harmoniesüchtig und rund sei, doch nicht übersehen sollte man, dass hier die Gefühle und Gedanken, die Menschenliebe und die Wärme, die aus diesem Film strahlen, nicht kühl kalkuliert, sondern echt wirken und diese Lektion in Sachen Freundschaft und Lebensglück durch diese Echtheit berührt, mit innerer Wärme erfüllt und glücklich und gelöst mit einem Lächeln aus dem Kino schweben lässt.



Presque Frankreich / Schweiz 2021 Regie: Bernard Campan, Alexandre Jollien mit: Bernard Campan, Alexandre Jollien, Julie-Anne Roth, La Castou, Marie Benati, Marilyne Canto, Sofiia Manousha, Marie Petiot Länge: 92 min.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan - ab 3.6. in den österreichischen Kinos


Trailer zu "Presque - Glück auf einer Skala von 1 bis 10"


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