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AutorenbildWalter Gasperi

Je verrai toujours vos visages


Seit 2014 wird in Frankreich Tätern und Opfern von Verbrechen die Möglichkeit geboten, sich unter Aufsicht von Fachleuten zu begegnen und auszusprechen. Jeanne Herry bietet in ihrem ebenso spartanischen wie packenden Spielfilm Einblick in die Praxis der restaurativen Justiz.


Unmittelbar setzt "Je verrai toujours vos visages" mit einer Frau ein, die erzählt, wie sie unter Alkoholeinfluss ihren Mann getötet hat. Ein Mann und eine Frau befragen sie zur Tat, wollen Näheres erfahren. Abrupt bricht die Szene aber ab und mit einem Schnitt in die Totale entpuppt sie sich als Übung für zukünftige Mediator:innen im Rahmen der restaurativen Justiz.


Dabei werden nach ausführlichen Vorgesprächen und ausnahmslos freiwillig Täter und Opfer von zwar gleichartigen, aber nicht den gleichen Verbrechen in Gesprächsrunden zusammengeführt, um sich auszusprechen. Beide Seiten sollen Einblick in Denkweise und Psyche der jeweils anderen bekommen, um einerseits bei den Opfern im Idealfall Traumata und Ängste zu mildern, andererseits die Täter, durch Einsicht in die Folgen ihrer Verbrechen für die Opfer auf eine Rückkehr in die Gesellschaft vorzubereiten.


Nicht immer verlaufen diese Prozesse freilich erfolgreich und wenn sie gelingen, steckt dahinter kein Wunder, sondern harte Arbeit. Das macht auch der Ausbildungsleiter klar, wenn er erklärt: "Restaurative Justiz ist ein Kampfsport."


Jeanne Herry begleitet in ihrem dritten Spielfilm mit dem Mediator:innen-Duo Fanny (Suliane Brahm) und Michel (Jean-Pierre Darroussin) sowie der Mediatorin Judith (Élodie Bouchez) parallel zwei unterschiedliche Fälle und Vorgangsweisen. Auf der einen Seite steht eine Gruppentherapie mit drei wegen Raubes verurteilten Männern und drei Opfern von Raubüberfällen, auf der anderen Seite die Endzwanzigerin Chloé (Adèle Exarchopoulos), die ein Treffen mit ihrem einige Jahre älteren Halbbruder anstrebt, der sie in der Kindheit über Jahre sexuell missbrauchte.


Spartanisch ist die Inszenierung, auf jedes Beiwerk verzichtet Herry, fokussiert ganz auf den Gesprächen. Während sich Fanny und Michel bei der Gesprächsrunde zurückhalten und den Raum ganz den Opfern und Tätern überlassen, sucht Judith das intensive Gespräch mit Chloé, coacht sie und dient auch als Mittlerin zum Halbbruder, um das schwierige Treffen vorzubereiten.


Mit zwei minimalen Ausnahmen verzichtet Herry auf Rückblenden, beschränkt sich ganz auf die Gespräche im Hier und Jetzt. Großaufnahmen dominieren, nichts lenkt den Blick von den Gesichtern ab. Auch die Musik ist auf ein Minimum reduziert. Raum wird so den Schauspieler:innen gegeben, die in langen Monologen einen Einblick vermitteln, wie die Überfälle ihr Leben von einem Moment auf den anderen zerbrechen ließen, wie Ängste, Schlaflosigkeit, Panikattacken oder Depressionen zum permanenten Begleiter wurden, familiäre Kontakte zerbröckeln ließen und eine Rückkehr in einen normalen Alltag nicht mehr glückte.


Dominiert zunächst auf Seiten der Opfer Wut und Feindseligkeit, aber auch Interesse an der Motivation der Täter, so bieten die Schilderungen der Häftlinge auch Einblick in ihre Sicht der Dinge von ihrer völligen Fokussierung auf dem Geld ohne jeglichem Interesse an den Opfern bis zu ihrer permanenten Angst bei einem Überfall und der anschließenden Furcht enttarnt zu werden.


Gleichzeitig vermitteln die Gespräche zwischen Judith und Chloé intensiv, welche psychische Belastung die geplante Begegnung mit ihrem Halbbruder für die junge Frau darstellt. Zur Klimax des Films wird dieses bewegende Gespräch, bei dem Chloé ganz klare Regeln diktiert, um jede zukünftige zufällige Begegnung von vornherein zu vermeiden.


Knochentrocken ist das in der Konzentration auf diese Gespräche und der Aussparung jedes persönlichen Backgrounds, entwickelt aber gerade durch diese Fokussierung und die herausragenden Schauspieler:innen große Spannung. Fast physisch lassen diese detaillierten Schilderungen den Schrecken und die Nachwirkungen eines Überfalls nacherleben.


Nie will der quasidokumentarische Film dem Publikum dabei vorgaukeln, dass restaurative Justiz ein Allheilmittel ist und stellt immer auch die Möglichkeit des Scheiterns in den Raum. Aber Herry zeigt eben auch die Chancen auf, wenn die Täter mit ihren Schilderungen den Opfern Ängste nehmen und sie andererseits ein Bewusstsein für die Folgen ihrer Taten entwickeln und am Ende der Gesprächsrunden gemeinsame Selfies gemacht werden oder sich auch die Spannung bei Chloé nach dem Gespräch löst. – Nie lässt "Je verrai toujours vos visages" dabei aber vergessen, dass hinter diesen Erfolgen ein monatelanger Prozess mit harter Arbeit steckt.



Je verrai toujours vos visages Frankreich 2023 Regie: Jeanne Herry mit: Élodie Bouchez, Adèle Exarchopoulos, Jean-Pierre Darroussin, Birane Ba, Leïla Bekhti, Miou-Miou, Gilles Lellouche, Denis Podalydès Länge: 118 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Skino Schaan und im Kinok St. Gallen.


Trailer zu "Je verrai toujours vos visages"


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