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  • AutorenbildWalter Gasperi

Das Unsichtbare sichtbar machen: Animadok


Chris the Swiss (Anja Kofmel, 2018)

Seit Ari Folman 2008 in "Waltz with Bashir" seine realen Erlebnisse als junger Soldat im Libanonkrieg 1982 großteils in Form eines Animationsfilms aufarbeitete, findet diese Stilform vermehrt Anwendung im Dokumentarfilm. Der Spielboden Dornbirn bietet mit drei neueren Filmen Einblick in die Möglichkeiten und Spielarten des animierten Dokumentarfilms.


Weil sich Ari Folman an nichts mehr erinnern konnte, was er 1982 im Libanonkrieg erlebt hatte, befragte er damalige Kameraden über die Ereignisse. Bildmaterial gab es allerdings kaum, sodass Folman in "Waltz with Bashir" nicht nur seine Geschichte, sondern auch seine Träume und Gedanken in animierten Szenen nachstellte.


Großes Aufsehen erregte der Israeli damit, denn die Künstlichkeit der Animation und der Realitätsanspruch des Dokumentarfilms galten bislang als unvereinbar. Zwar gab es schon zwischen 1910 und 1930 Dokumentarfilme, in denen Ereignisse wie der Untergang der Lusitania mit Animationsszenen erzählt wurden ("The Sinking of the Lusitania", 1918; Regie: Winsor McCay), da dokumentarisches Bildmaterial für die Katastrophe fehlte. Doch spätestens ab den früheren 1960er Jahren wurden mit dem Aufkommen von Direct Cinema und Cinéma Vérité solche Experimente abgelehnt. Als Ziel des Dokumentarfilms galt es nun möglichst authentisch, unverfälscht und direkt die Wirklichkeit einzufangen.


Zwar entwickelte der Dokumentarfilm in den folgenden Jahrzehnten auch durch die Bedürfnisse der Fernsehsender und das Aufkommen der Computertechnologie neue Formen, doch Animationsszenen fanden sich in diesem Genre bis zu "Waltz with Bashir" kaum. Mit diesem Film wurde quasi ein Damm gebrochen und vor allem in Dokumentarfilmen, die persönliche Geschichten erzählen, für die es keine Bilder gibt, werden vermehrt Animationsszenen eingesetzt.


Neben "Waltz with Bashir", der erst am Ende in reales Archivmaterial vom Massaker von Sabra und Shatila übergeht, ist auch Anja Kofmels "Chris the Swiss" (2018) ein packendes und visuell aufregendes Beispiel dafür. Die Schweizerin spürt in ihrem ersten Langfilm, der 2019 als bester Dokumentarfilm mit dem Schweizer Filmpreis ausgezeichnet wurde, den Spuren des von ihr bewunderten Cousins Christian nach, der 1992 im jugoslawischen Bürgerkrieg ums Leben kam.


Am Beginn stehen schwarzweiße Animationsszenen von einem Mädchen in einem Kornfeld und einem übergroßen Mann, zu denen sich die Regisseurin im Voice-over an die Nachricht vom Tod ihres Cousins erinnert und die Spurensuche motivieren. Bilder von Kofmels Reise nach Kroatien, Interviews mit Christians Eltern, seinem Bruder und Kriegsberichterstattern, denen der junge Schweizer damals in Kroatien begegnet ist, verbindet Kofmel mit TV-Bildern von den damaligen kriegerischen Auseinandersetzungen und animierten Szenen, in denen sie sich aufgrund von Chris´ Tagebuchaufzeichnungen vorstellt, was damals passiert sein könnte.


Etwas viel packt Kofmel zwar in ihren formal schillernden Dokumentarfilm, wenn sie auch kurz die Geschichte Jugoslawiens seit dem Attentat von Sarajewo 1914 skizziert, den Zerfall des Ostblocks und auch die Rolle des Opus Dei anspricht, das paramilitärische Gruppen in Kroatien als östlichster Grenze des Christentums finanziell unterstützte. Andererseits gewinnt "Chris the Swiss" aber gerade dadurch eine packende Vielschichtigkeit.


Kofmel zeichnet ihren Cousin nämlich keinesfalls als Heiligen, sondern deckt im Zuge ihrer Recherche verstörende Risse und Veränderungen in dessen Charakter auf und macht sichtbar, wie leicht der dünne Firnis der Zivilisation in einem Krieg zerbricht. So konkret die geschilderten historischen Ereignisse dabei sind, so allgemeingültig ist "Chris the Swiss" in seiner Auseinandersetzung mit der Barbarei des Krieges, die den Menschen seine moralische Orientierung verlieren lässt und pervertiert.


Arbeitet Kofmel mit gezeichneten schwarzweißen Animationen, so erweckt der Chilene Cristóbal León in "La casa lobo" (2018) Puppen mittels Stop-Motion-Technik zum Leben. Auf die historische Ebene verweisen hier Archivbilder am Beginn, die mit idyllischer südchilenischer Landschaft und einem frommen Deutschen die berüchtigte Colonia Dignidad in Erinnerung rufen, die in den 1970er Jahren als Folterzentrum des Geheimdienstes des Pinochet-Regimes diente.


Kontrast zu den Bildern schafft das Voice-over, das auf Menschenrechtsverletzungen und medizinische Versuche anspielt, bis sich aus dieser Ebene ein düsteres Märchen in Puppenanimation entwickelt, in dem ein Mädchen aus der Colonia in einen Wald flüchtet, in dem es auf ein abgelegenes Haus stößt. Dort ist nichts festgeschrieben, sondern sowohl Räume als auch Figuren sind ständigen Metamorphosen unterworfen, sodass sich eine alptraumhafte Erzählung entwickelt, die laut filmdienst.de enormen Sog entwickelt.


Der Spanier Raúl de la Fuente verknüpft dagegen in "Another Day of Life" (2018) weitgehend fotorealistische Animationen mit Interviews, historischen Fotos und neu gedrehten Szenen des heutigen Angola um von den Erfahrungen des polnischen Auslandskorrespondenten Ryszard Kapuściński (1932-2007) während des Angolanischen Bürgerkriegs im Jahr 1975 zu erzählen. De la Fuente arbeitet dabei nicht nur das Spannungsfeld zwischen journalistischer Unabhängigkeit und Empathie für den Unabhängigkeitskampf heraus, sondern zeigt laut programmkino.de auch, dass die Hoffnungen und Träume, die alle für ein freies Angola hatten, sich nie erfüllt haben.


Animadok-Filmreihe am Spielboden Dornbirn.


Trailer zu "Chris the Swiss"



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