Zeit ist eine zentrale Komponente des erzählenden Films. Ganz unterschiedlich können Regisseure damit aber arbeiten: Sie können die Handlung verknappen oder dehnen, können in Echtzeit oder rückwärts erzählen oder auch Zeitebenen ineinander verschachteln. Das Kinok St. Gallen bietet im September als Ergänzung zur Ausstellung "On on Kawara" in der Kunstzone der Lokremise unter dem Titel "It´s All about Time" mit acht Filmen einen Einblick in diesen vielfältigen filmischen Umgang mit der Zeit.
Untrennbar mit der Zeit verbunden ist jeder Film, denn rein äußerlich hat er schon eine bestimmte Länge und läuft zwingend und unaufhaltsam über diese Erzählzeit ab, während beispielsweise bei einem Buch die Leserschaft selbst das Lesetempo bestimmt.
Der Erzählzeit steht die erzählte Zeit gegenüber, die den zeitlichen Handlungsrahmen eines Films bestimmt. Hier nun haben die Regisseure mannigfache Gestaltungsmöglichkeiten. Sie können eine langjährige Ehe mittels Montage auf etwa vier Minuten verkürzen wie Pete Docter im Pixar-Animationsfilm "Up – Oben" (2009) oder aber Momente durch Zeitlupe dehnen und damit akzentuieren wie beispielsweise Sam Peckinpah in seinen Actionfilmen und vor allem im legendären Showdown von "The Wild Bunch" (1969).
Ausnahmeregisseure wie Theo Angelopoulos ("O Thiasos – Die Wanderschauspieler", 1974) lassen auch in einer Einstellung die Zeitebenen verschwimmen und Gegenwart und Vergangenheit ineinanderfließen. Gängigeres Mittel filmischen Erzählens ist aber die Raffung der Zeit durch Montagesequenzen, denn meistens ist die erzählte Zeit deutlich länger als die Erzählzeit.
In eins fallen müssen freilich diese beiden Ebenen, wenn ein Film ohne Schnitt auskommt und in einer Einstellung erzählt wird. So simulieren One-Shot-Filme wie Alexander Sokurovs "Russian Ark" (2002), Sebastian Schippers "Victoria" (2015), Sam Mendes´ "1917" (2019) oder zuletzt Philip Barantinis fulminanter "Boiling Point" (2021) zumindest den Eindruck von Echtzeit und erzeugen damit große immersive Kraft.
Aber auch jenseits solcher Experimente ist ein Erzählen in Echtzeit möglich. Kaum mehr als die 85 Minuten Erzählzeit umfasst beispielsweise die erzählte Zeit von Fred Zinnemanns Klassiker "High Noon" (1952). Von der Hochzeit des Marshals Will Kane (Gary Cooper) um etwa 10.30 Uhr bis zum Showdown mit der frisch entlassenen Gangsterbande, die Kane töten will, um 12 Uhr mittags – oder eben: High Noon – spannt sich der Handlungsbogen.
Dazwischen liegen Kanes verzweifelten, aber erfolglosen Versuche von den Bewohner*innen der Kleinstadt Unterstützung zu erhalten, in der er über Jahre für Recht und Ordnung gesorgt hat. Wiederkehrende Kamerablicke auf die Uhr verdichten mit der fortschreitenden Zeit die zunehmend prekäre Situation des einsamen Protagonisten. Wie Zinnemann in Kane die Isolation kritischer oder linksorientierter Filmschaffender in der Zeit der Kommunistenjagd McCarthys spiegelte, so kritisierte er im Verhalten der Einwohner der Kleinstadt auch mangelnde Zivilcourage.
Während in "High Noon" die Handlung wie auf Schienen, konsequent, aber packend nach vorwärts auf den Showdown hin entwickelt wird, stellte Francois Ozon rund 50 Jahre später in "5 x 2" (2004) eine Beziehungsgeschichte auf den Kopf und erzählte sie in fünf Momentaufnahmen von der Scheidung rückwärts bis zur romantischen ersten Begegnung am Meer. Von Anfang an wird durch die Umkehrung der Chronologie jede Hoffnung auf ein glückliches Ende zerstört, der Blick richtet sich vielmehr auf die Frage, wo sich Gründe für das Scheitern der Beziehung finden lassen.
Gegenpol zur Rückwärtserzählung im Großen ist dabei die Fokussierung auf einen Moment in den einzelnen Kapiteln. Konzentriert auf einen Ort, auf wenige Personen und die Beziehung als einziges Thema wird hier nahezu in Echtzeit erzählt, während Schwarzfilm zwischen den einzelnen Kapiteln große und markante Ellipsen signalisieren.
Zentrales Thema ist die Zeit im Schaffen des Briten Christopher Nolan. Seinen Kriegsfilm "Dunkirk" (2017) durchzieht das Ticken einer Uhr, während auf der Handlungsebene die drei unterschiedlich langen Ebenen eines Luftkampfes, des Wartens der Soldaten am Strand von Dünkirchen und der von England aus gestarteten Rettungsaktion ineinander geschnitten werden.
Zwischen den Zeitebenen pendelte Nolan auch in seinem bislang letzten Film "Tenet" (2020) und ließ in seinem Science-Fiction-Film "Interstellar" (2014) die Reise Matthew McConaugheys in den Weltraum in eine Zeitreise münden.
Mit der Zeit spielte Nolan freilich schon in seinem zweiten Spielfilm "Memento" (2000). Im Prinzip wird darin eine klassische Film noir-Geschichte um einen Mann erzählt, der sein Gedächtnis verloren hat und den Mörder seiner Frau sucht. Besonderen Dreh erhält dieser Neo-Noir aber dadurch, dass Nolan die Geschichte rückwärts erzählt, die Orientierungslosigkeit des Protagonisten direkt auf das Publikum überträgt und es zwingt zusammen mit ihm langsam die Geschichte aus Puzzleteilen zusammenzusetzen. Gleichzeitig wird das Geschehen parallel dazu in einer in Schwarzweiß gedrehten zweiten Handlungsebene in chronologischer Abfolge erzählt.
Mit Variationen der gleichen Geschichte spielt dagegen Tom Tykwer, der in "Lola rennt" (1999) seine Protagonistin dreimal mit unterschiedlichem Verlauf und Ergebnis losrennen lässt, um das einem Gangsterboss geschuldete Geld aufzutreiben. In Echtzeitschleifen entwickelt sich so eine formal brillante und mitreißende Reflexion über Zeit und Zufall.
Zeit, Erinnerung und Vergessen sind zentrale Themen der frühen Filme von Alain Resnais. Schon seinen Dokumentarfilm "Nuit et brouillard" (1955) bestimmt die Erinnerung an die Konzentrationslager und den Holocaust des NS-Regimes und signalisiert mit Gras, das an den Stätten des Grauens wächst, gleichzeitig das Vergehen der Zeit und das langsame Verschwinden der Orte der Massenmorde. In seinem ersten Spielfilm "Hiroshima, mon amour" (1959) verband er eine 1959 in Hiroshima spielende Liebesgeschichte mit einer während des Zweiten Weltkriegs und gleichzeitig eine private Tragödie mit der Tragödie des ersten Atombombenabwurfs.
Erratisch um Erinnerung und Vergessen und um Schein und Sein kreist "L´année dernière à Marienbad" (1961) und in "Je t´aime, je t´aime" (1967) wird ein junger Mann im Rahmen eines wissenschaftlichen Experiments um ein Jahr zurückversetzt und erlebt nochmals eine unglückliche Liebe. Spielerischer als in seinen früheren Filmen reflektiert Resnais dabei über die Zusammenhänge von Zeit, Bewusstsein und Erinnerung.
Auf eine Zeitreise schickt auch Terry Gilliam in "Twelve Monkeys" (1995), der von Chris Markers Kurzfilm "La jetée" (1962) inspiriert ist, seinen Protagonisten. Vom Jahr 2035 reist der von Bruce Willis gespielte James Cole in die Vergangenheit der 1990er Jahre, um die Ursache einer weltweiten Virus-Epidemie, der beinahe die ganze Menschheit zum Opfer fiel, ausfindig zu machen. Im Gewand eines spektakulären und bildmächtigen Actionfilms wird so die Frage verhandelt, ob der Verlauf der Geschichte nachträglich verändert werden kann.
Um die Relativität von Zeit kreist dagegen "The Death and Life of Otto Blum" (2016) des Briten Cris Jones. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der die Zeit rückwärts erlebt und weiß, was passieren wird, dies aber vergisst, sobald es geschehen ist. Während Otto Blum mit zunehmendem Alter weniger weiß, hebt Andrej Tarkowskij in seinem Science-Fiction-Film "Solaris" (1972) die Zeit förmlich auf. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen auf der Weltraumstation, wenn unter Einfluss eines mysteriösen Ozeans durch Gedanken und Erinnerungen Verstorbene wieder materialisiert werden.
So bietet diese Filmreihe mit dem Bogen von Echtzeiterzählung über Rückwärtserzählen sowie Zeit und Zufall bis hin zu Fragen der Erinnerung und dem Eingriff in Zeitabläufe nicht nur einen Einblick in die vielfältigen Möglichkeiten des filmischen Umgangs mit der Zeit, sondern regt auch an, wieder einmal über das schwer greifbare Phänomen Zeit zu reflektieren.
Weitere Informationen und Spieldaten finden Sie hier.
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