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  • AutorenbildWalter Gasperi

W. – Was von der Lüge bleibt


Viel beachtet wurde 1995 das Buch "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948", die Bruno Wilkomirski als autobiographische Darstellung seiner Zeit im KZ Majdanek ausgab. Drei Jahre später stellte sich aber heraus, dass Wilkomirski die Geschichte erfunden hatte. Rolando Colla zeichnet in seinem spannenden Dokumentarfilm nicht nur akribisch die Entstehung des Buchs und die Aufdeckung des Skandals nach, sondern fragt auch nach Wahrheit und Täuschung sowie den Wurzeln dieser Lebenslegende


In fünf Teile oder Geschichten hat Rolando Colla seinen Dokumentarfilm gegliedert und spannt dabei den Bogen vom Inhalt von "Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 – 1948" über die Aufdeckung der fingierten Kindheitsgeschichte bis zum heutigen Leben von Bruno Wilkomirski.


Unterstützt von einem Off-Kommentar erinnert der 1957 in Schaffhausen geborene Regisseur mit Archivmaterial vom jüdischen Riga der späten 1930er Jahre, der Ermordung von 27.000 lettischen Juden durch die SS und Bildern vom KZ Majdanek an die Gräuel des NS-Regimes und bietet in Animationen des Comiczeichners und Illustrators Thomas Ott Einblick in die Schilderungen Wilkomirskis.

Mit diesen beunruhigenden, düsteren Schwarzweißbildern, die sich ständig verändern und bei denen sich die Gestalten vielfach erst aus dem Dunkel heraus bilden, wird beklemmend die Traumatisierung durch diese angeblichen kindlichen Erfahrungen beschworen bis hin zur Zeit in einem Waisenhaus in Krakau und der Ankunft in der Schweiz 1947.

Mit Auszügen aus begeisternden Buchbesprechungen in Die Zeit, im Guardian, New York Times und NZZ und einem Blick auf die vielfältigen Einladungen des Autors als Zeitzeuge wird dieses Kapitel abgeschlossen. Den Kontrapunkt setzt der zweite "Die Wende" betitelte Abschnitt, in dem die Entlarvung der angeblichen Autobiographie als Fiktion durch den Journalisten Daniel Ganzfried und den Historiker Stefan Mächler nachgezeichnet wird.


Wie ein Krimi ist "W. – Was von der Lüge bleibt" aufgebaut, packt mit überraschenden Wendungen und setzt die Fiktion Wilkomirskis, der eigentlich Bruno Dössekker heißt, mit der Realität in Bezug. Plastisch arbeitet Colla heraus, wie die harten Erfahrungen in einem Schweizer Waisenhaus, eine tobsüchtige Pflegemutter und anschließende Adoption durch das Zürcher Ehepaar Dössekker, bei dem sich der Junge wie in einem Goldenen Käfig, aber nie zu Hause fühlte, aber auch die Erzählungen einer Holocaust-Überlebenden diese Erfindung einer neuen Identität befeuerten.


Sah man zuvor Wilkomirski mehr schemenhaft als konkret in einer Therme, kommt er nach etwa einer Stunde im dritten Teil, der den Titel "Aus der Distanz" trägt, selbst ins Bild und zu Wort. Zog sich dieser Berufsmusiker nach dem Skandal nämlich völlig zurück, so gelang es Colla 15 Jahre später mit dem auf einem Bauernhof im Thurgau lebenden und an einer Nervenkrankheit leidenden Mann Kontakt zu knüpfen und sein Vertrauen zu gewinnen.

Wird hier Einblick in sein Denken und seine Befindlichkeit wie sein Gefühl Jude zu sein geboten, so wird in einem vierten Abschnitt ("Rekonstruktion") sein tatsächliches Leben rekonstruiert. Spiegelungen und Parallelen nicht nur zu "Bruchstücke" stellen sich dabei ein, sondern ein neuer Blick auf schon zuvor Geschildertes öffnet sich hier durch die veränderte Perspektive und weitere Interviewpartner.


Zunehmend komplexer wird damit das Bild Wilkomirskis, der eben kein reiner Täter ist, sondern ein durch die Ablehnung durch seine Mutter, die Misshandlungen im Waisenhaus und die Kälte der Pfleg- und Adoptiveltern schwer traumatisierter Mann. Die Ungewissheit über seine eigene Herkunft, das Fehlen einer eigenen Identität, aber auch die intensive Beschäftigung mit der Shoah erscheinen als Wurzeln für das Bestreben sich in diese jüdische Identität hinein zu fantasieren, mit der er auch Aufmerksamkeit und Anteilnahme erlangen wollte. Undurchsichtig bleibt dabei die Rolle seines befreundeten jüdischen Psychotherapeuten Elitsur Bernstein.


Ohne Off-Kommentar kommt schließlich der Epilog aus, der den Protagonisten im heutigen Leben zeigt und quasi den Bogen zu seiner Kindheit schlägt, denn wieder sieht man einen einsamen, nun aber auch alten und kranken Mann. Zögernd gesteht er hier erstmals ein, dass es sich bei "Bruchstücke" doch nicht um eine Autobiographie handelt, setzt aber auch in erschreckender Weise seine harte Kindheit in einem Schweizer Waisenhaus mit dem Leben in einem KZ gleich. Sichtbar wird auch, wie in ihm immer noch große Sehnsucht nach Zugehörigkeit brennt, die scheinbar nur bei Aufenthalten in Israel gestillt wird und die ihn von einer Beziehung zu einer wesentlich jüngeren Israelin träumen lässt.


"W. – Was von der Lüge bleibt" besticht durch seinen sorgfältigen Aufbau, der für Spannung sorgt und durch den sich der Blick sukzessive weitet. Meisterhaft fügt Colla in seinem akribisch recherchierten Dokumentarfilm eine Fülle von Archivmaterial zu einer schlüssigen und vielstimmigen Erzählung, die nicht nur die Frage aufwirft, wieso diese Täuschung nicht früher aufflog und ob man grundsätzlich Opfern gerne Glauben schenkt, sondern anhand der Aufdeckung auch deutlich macht, wie wichtig – gerade in Zeiten von Fake News – genaue Recherchen sind.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im Kinok in St. Gallen und im Skino in Schaan.


Trailer zu "W. - Was von der Lüge bleibt"



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