Coming-of-Age-Geschichte, zärtliche Romanze, persönliches Trauma und nationale Katastrophen: Mit einem Teenager als Protagonistin erzählt Makoto Shinkai in seinem bildgewaltigen Animé eindrücklich vom Weiterleben nach einem schweren Verlust und einem japanischen Trauma.
Die Protagonist:innen der Animé sind zwar oft im Kinder- oder Jugendalter, doch die Themen, die darin verhandelt werden, sind immer wieder gesellschaftlich oder historisch relevant und oft auch erschütternd. Zutiefst bewegend und herzzerreißend erzählte so Isao Takahata in "Die letzten Glühwürmchen" (1988) vom verzweifelten Überlebenskampf zweier Kinder während des zu Ende gehenden Zweiten Weltkriegs. Die Gefährdung der Erde durch Umweltzerstörung ist ein wiederkehrendes Thema im Werk Hayao Miyazakis und mitreißend erzählte Mamoru Hosoda im visuell grandiosen "Belle" (2021) nicht nur vom Spannungsfeld zwischen realer und virtueller Welt, sondern auch von familiärem Trauma und häuslicher Gewalt.
Auch das Leben der 17-jährigen Suzume im gleichnamigen Film von Makoto Shinkai ("Your Name", 2016; "Weathering With You", 2019) ist nicht ungetrübt, denn immer wieder brechen Erinnerungen der Waise an den Tod ihrer alleinerziehenden Mutter hervor. Diese starb, als Suzume vier war, doch die Hintergründe ihres Todes werden erst am Ende gelüftet, wenn das Trauma Suzumes, die von ihrer Tante groß gezogen wurde, mit einem nationalen Trauma verknüpft wird.
Als Suzume eines Tages auf dem Schulweg einem seltsamen jungen Mann namens Souta begegnet, ist sie auf Anhieb von diesem fasziniert. Sie zeigt ihm nicht nur den Weg zu einer Ruinenlandschaft, sondern folgt ihm auch dorthin. Dort findet sie eine Tür, die ihr einen Blick in eine andere Welt ermöglicht, die sie aber nicht betreten kann.
Durch diese Tür bricht aber ein gewaltiger roter Wurm in die Realität herein, der Suzumes Heimatstadt durch ein Erdbeben zu zerstören droht. Gemeinsam mit dem jungen Mann gelingt es ihr aber die Tür zu schließen und so eine Katastrophe abzuwenden. Doch weil durch ihre Berührung ein Verschlussstein in eine sprechende Katze verwandelt wurde, ist der Wurm nicht dauerhaft gebändigt, sondern kann an unterschiedlichsten Orten Japans wieder hervorbrechen und Erdbeben auslösen.
Die mysteriöse Katze sperrt Souta aber auch quasi in Suzumes dreibeinigen Kinderstuhl, der eine zentrale Erinnerung an ihre verstorbene Mutter ist. Dann haut die Katze ab und scheint immer wieder dafür verantwortlich, dass der todbringende Wurm entfesselt wird. Doch Suzume und der in ihren Stuhl verwandelte Souta können ihr folgen, da in den sozialen Medien immer wieder Posts mit dem Bild der Katze erscheinen, und versuchen jeweils die Türen, durch die das Verderben aus der Parallelwelt in die Realität hereinbricht zu schließen.
Ziemlich abgefahren klingt die Geschichte und im Detail ist es nicht immer ganz leicht, die Übersicht zu bewahren. Manches – wie eine plötzlich auftauchende zweite Katze – bleibt rätselhaft, doch mit Suzume als Identifikationsfigur gibt es eine klare Handlungslinie.
Das Roadmovie, das sich dabei entwickelt, erinnert mit den stets drohenden Erdbeben nicht nur an die ganz allgemein tektonische Labilität Japans, sondern ruft mit den Städten Kobe und Tokio auch ganz reale und Japan tief erschütternde Katastrophen im Jahr 1995 (Kobe) und in 1923 (Tokio) in Erinnerung. Von diesen weiter zurückliegenden Ereignissen nähert sich "Suzume" schließlich der größten Katastrophe der jungen japanischen Geschichte.
Privates Trauma und nationale Tragödie werden so verknüpft und zutiefst berührend wird der Schmerz von Kindern, die ihre Eltern verloren haben, spürbar, wenn die vierjährige Suzume verzweifelt ihre Mutter sucht und von ihrem 13 Jahre älteren Ich getröstet wird. Denn Shinkai stellt eben nicht nur mit blauem Himmel und leuchtend grünen Wiesen auf der einen Seite und feuerrotem Wurm sowie zerstörter, von der Natur überwachsener und von Menschen verlassener Ruinenlandschaft auf der anderen Seite Idyll und Katastrophe einander gegenüber, sondern switcht auch zwischen den Zeiten.
Immer wieder brechen Erinnerungen Suzumes an ihre Kindheit herein und mühsam ist der Prozess den damaligen traumatischen Verlust zu verarbeiten und einen Weg in die Zukunft zu finden. Doch trotz dieses Traumas verbreitet "Suzume" Optimismus, wenn sich Suzume als Teenager seinem jüngeren Ich als dessen Zukunft präsentiert und ihm erklärt, dass das Leben weitergehen wird und es neue Erfahrungen und Bekanntschaften machen wird.
Wenn dabei immer wieder Türen geöffnet und geschlossen werden, dann verweist das auch darauf, dass man die Vergangenheit nicht einfach wegsperren kann, sondern sich ihr stellen muss. Erst durch diese – auch schmerzhafte – Auseinandersetzung wird der Weg in die Zukunft möglich.
So erzählt "Suzume" auch eine Entwicklungsgeschichte und Coming-of-Age-Geschichte. Sicher kein Zufall ist dabei, dass der gewaltige Wurm unübersehbar an einen Penis erinnert. In dessen Wegsperren kann man folglich auch die Angst des Teenagers vor dem Erwachsenwerden und letztlich wohl auch vor Penetration beim (ersten) Geschlechtsverkehr lesen.
Gleichzeitig fehlen mit dem sprechenden und laufenden dreibeinigen Kinderstuhl, dessen Defekt auf Suzumes Trauma verweist, oder mit der sprechenden Katze auch verspielt-kindliche Momente nicht. Ganz selbstverständlich sind diese in die Handlung integriert und sind keine Fremdkörper in dem zwischen Realismus und magischer Parallelwelt pendelnden Film.
Bei aller Bildgewalt und bei allem Detailreichtum fällt aber doch auch auf, dass "Suzume" bei der Reise durch Japan und dem wiederholten Bannen von Katastrophen auch zum Repetitiven neigt. Auch die Romanze zwischen Suzume und Souta kann, da der junge Mann die meiste Zeit ja im Kinderstuhl eingesperrt ist, nur wenig emotionale Kraft entwickeln.
Ganz das Niveau von Hosodas "Belle" erreicht dieser Animé so nicht, denn auch die Nebenfiguren bleiben ziemlich blass und gewinnen kaum Profil. Spektakuläre Unterhaltung mit Tiefgang wird aufgrund des hohen Tempos und der eindrucksvollen visuellen Gestaltung aber dennoch geboten.
Suzume Japan 2022 Regie: Makoto Shinkai Animationsfilm Länge: 122 min.
Läuft derzeit in den österreichischen, deutschen und Schweizer Kinos
Trailer zu "Suzume"
Comments