Neu bei filmingo.ch: Fürsorglich kümmert sich Tina um ihre zehnjährige Tochter Vittoria, doch dann lernt diese die ausgelassen lebende Angelica kennen und wendet sich zunehmend dieser verletzlichen, labilen Frau zu. – Laura Bispuris zweiter Spielfilm, der um die Frage der Mutterschaft kreist, lebt von drei großartigen Schauspielerinnen und einer starken, rohen Bildsprache.
Mitten hinein geworfen wird man in diesen Film, wenn die unruhige Handkamera der 10-jährigen Vittoria durch ein Rodeo-Fest im ländlichen Sardinien folgt. Geschockt wendet sie sich ab, als sie in einer Ecke eine rothaarige Frau beim Sex sieht und läuft zu ihrer Mutter Tina, die sie schützend umarmt. – Das Spannungsfeld von Laura Bispuris zweitem Spielfilm ist damit schon abgesteckt, denn der kleine Rotschopf wird zunehmend zwischen Tina, die in Wahrheit ihre Ziehmutter ist, und Angelica, die ihre leibliche Mutter ist, zerrissen werden.
Schon oft behandelt wurde die Frage, ob biologische Mutter- oder Vaterschaft oder langjährige Fürsorge entscheidend sind. Von Brechts „Der kaukasische Kreidekreis“ bis zu Hirokazu Kore-edas „Like Father, Like Son“ spannt sich der Bogen. In der Fokussierung ganz auf die drei Frauen und einer rohen Bildsprache mit einer nah geführten Kamera, die an die Filme der Dardenne-Brüder erinnert, gewinnt Bispuri dem Thema aber doch neue Facetten an.
Wie sie zwei Lebenskonzepte gegenüberstellt, wirkt zwar etwas schematisch und idealtypisch, doch die beiden wunderbaren Hauptdarstellerinnen Valeria Golina und Alba Rohrwacher erfüllen diese Figuren mit Leben. Da ist auf der einen Seite Tina, die in einer Fischfabrik arbeitet und mit ihrem Mann Umberto ein biederes bürgerliches Leben führt und auf der anderen Seite Angelica, die auf einem verfallenden Hof lebt, sich jeden Abend in der örtlichen Bar betrinkt und mit Männern gegen Geld Sex hat.
Als Mutter sah sich Angelica nie und übergab deshalb ihre Tochter nach der Geburt Tina, die sich liebevoll und schon fast überfürsorglich um das Mädchen kümmert. Immer hat Tina dafür Angelica unterstützt, jetzt aber steht deren Hof vor der Exekution und sie möchte ihre Tochter doch noch einmal sehen. Sofort fühlt sich das Mädchen zu Angelica, die sich auch äußerlich sehr ähneln, hingezogen, besucht sie heimlich öfters und lernt ein ganz anderes, ausgelassenes und lustvolles Leben kennen, bei dem Leidenschaft und Zornausbrüche, Zärtlichkeit und Aggression immer wieder abrupt wechseln.
Zunehmend zerrissen ist dadurch Vittoria zwischen den zwei Frauen und das Ende, das Bispuri für ihren Film gewählt hat, kann nicht überzeugen. Wie sie aber aus der Perspektive aller drei Frauen erzählt, keine Wertung trifft, beeindruckt doch ebenso wie die Bildsprache mit der nah geführten unruhigen Handkamera, die immer wieder die Zerrissenheit der Frauen nach außen kehrt.
Dynamik und Kraft entwickelt der Film durch diese Kameraarbeit von Vladan Radovic, gleichzeitig wird die Handlung durch die lichtdurchfluteten, sonnengetränkten, grobkörnigen und nicht digital sterilen Bilder des staubigen und heißen ländlichen Sardinien, das man förmlich spüren kann, atmosphärisch dicht regional verankert.
Und schließlich ist das ein Film für drei Schauspielerinnen. Mit Leidenschaft und vollem Körpereinsatz spielt vor allem Alba Rohrwacher die psychisch labile, sprunghafte, außerhalb der Gesellschaft lebende, fluchende und trinkende Angelica. Gerade im zurückhaltenden Spiel stark ist dagegen Valeria Golina als fürsorgliche und religiöse Mutter, die freilich auch fiese Methoden anwendet und besitzergreifend wird, als ihr Vittoria zu entgleiten droht.
Und dann ist da noch die kleine Sara Casu, die Bispuri in einer sardischen Familie fand.
Bewegend vermittelt sie die Schwierigkeit Vittorias einen richtigen Platz im Leben zu finden. Zerrissen ist sie zwischen den beiden Frauen, bald stößt sie die fürsorgliche Tina von sich, dann erkennt sie wieder, dass Angelica ihr doch kein Zuhause bieten kann, wenn es nichts zum Frühstück gibt und sich die Zehnjährige um ihre Mutter kümmern muss statt umgekehrt.
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Trailer zu "Figlia mia"
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