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  • AutorenbildWalter Gasperi

Roubaix, une lumière (Oh mercy!)


Nach einem realen Mordfall und einer darüber gedrehten TV-Dokumentation bietet Arnaud Desplechin Einblick in die mühsame Polizeiarbeit und zeichnet gleichzeitig ein bedrückendes Bild seiner Heimatstadt Roubaix, die mit dem Niedergang der Textilindustrie in eine schwere Krise stürzte.


Schon frühere Filme wie „Rois et reine“ (2004), „Un conte de Noël“ (2008) oder „Tres souvenir de ma jeunesse“ (2015) spielten zumindest teilweise in der an der Grenze zu Belgien gelegenen nordfranzösischen Heimatstadt Desplechins. Handelte es sich dabei aber um leichthändig inszenierte, romantische Gesellschaftskomödien, so ist der Blick auf Roubaix und die Menschen in „Roubaix, une lumière“ ungleich realistischer und bedrückender.


Schon die einleitende Fahrt von Hauptkommissar Daoud (Roschdy Zem) durch die nächtlichen Straßen zeichnet trotz Weihnachtszeit mit einem brennenden Auto und der Meldung eines Überfalls ein tristes Bild der einstigen Textilhauptstadt. In der für Desplechin typischen mäandernden Erzählweise folgt man Daoud bald bei der Ermittlung eines vermissten Mädchens, bald beim Verhör eines Mannes, der berichtet, dass zwei Algerier sein Auto angezündet hätten, dann im Fall einer Vergewaltigung. Dazu kommt auch noch der Brand eines Hauses, bei dem sich die Zeugenaussagen der beiden Drogen abhängigen jungen Nachbarinnen Claude (Léa Seydoux) und Marie (Sara Forestier) letztlich als wenig hilfreich erweisen.


Vom breiten Bild trister sozialer Verhältnisse engt der 1960 geborene Franzose den Blick schließlich aber auf den Mord an einer alten Frau ein, den Claude und Marie als Nachbarinnen zwar melden, aber zunehmend selbst in Verdacht geraten, die Täterinnen zu sein.


Wie ein Fels in der Brandung wirkt der algerischstämmige Daoud, dessen Angehörigen längst in ihre Heimat zurückgekehrt sind, in dieser Fülle sozialer Verwerfungen. Nichts scheint ihn aus der Ruhe zu bringen, voll Mitgefühl blickt er nicht nur auf die Opfer, sondern auch auf die Täter, die für ihn auch Opfer der Verhältnisse zu sein scheinen. Ihm zur Seite stellt Desplechin als Gegenpart den unerfahrenen und etwas unbeholfenen gläubigen Christen Louis Coterelle.


Dem quasidokumentarischen Porträt der desolaten Stadt steht im zweiten Teil nicht nur das Verhör der beiden jungen Frauen gegenüber, sondern damit auch dem mäandernden Beginn eine sehr geradlinige Erzählung und eine räumliche Einengung auf das Polizeirevier.

In zwei völlig unterschiedliche Abschnitte zerfällt „Roubaix, une lumière“ damit und wird nun zum von Léa Seydoux und Sara Forestier intensiv gespielten Schauspielerkino. An die Stelle des Blicks in die Seele der Stadt tritt nun nämlich mit der akribischen und ausführlichen Nachzeichnung des Verhörs und der langsamen Aufdeckung der Wahrheit der Blick in die Seelen dieser vom Leben gebeutelten jungen Frauen.

Trotz des brutalen Mordes, der schließlich auch detailgenau nachgespielt wird, blickt Desplechin dabei mit den Augen des von Roschdy Zem wunderbar stoisch, aber ausdrucksstark gespielten Hauptkommissars voll Mitgefühl auf die Täterinnen, lässt sie als Opfer der Verhältnisse erscheinen, denn urteilen über sie dürfe nicht die Polizei, sondern nur der Richter.


So real auch der Hintergrund des 2002 begangenen Mordes sein mag, der schon 2008 in der TV-Dokumentation „Roubaix, commissariat central, affaires courantes“, die Desplechin als Grundlage diente, aufgearbeitet wurde, so emotional wird „Roubaix, une lumière“ doch durch diesen Blick, der den unmenschlich handelnden Täterinnen Menschlichkeit zuteil werden lässt, aber auch durch die elegisch-jazzige Musik, die eine Stimmung tiefer Melancholie evoziert.


Läuft derzeit im Kinok in St. Gallen


Trailer zu "Roubaix, une lumière"




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