Reine mère
- Walter Gasperi
- 23. Juni
- 3 Min. Lesezeit

Sechs Jahre nach "Un divan à Tunis – Auf der Couch in Tunis" zeichnet Manele Labidi das Porträt einer maghrebinischen Familie im Paris der frühen 1990er Jahre: Eine vitale und warmherzige, aber auch wenig fokussierte und etwas zerfahrene Komödie über die Zerrissenheit zwischen den Kulturen und Identitätssuche.
Im Erfolgsfilm "Un divan à Tunis – Auf der Couch in Tunis" ließ Manele Labidi eine tunesischstämmige Psychoanalytikerin aus Paris in ihre Heimat zurückkehren, um dort eine Praxis zu eröffnen. Von diesem Spannungsfeld zwischen den Kulturen und von Identitätssuche erzählt Labidi auch in ihrem neuen Film.
Ein starkes Bild für diese Zerrissenheit kann man schon in der ersten Szene sehen, wenn die Protagonistin Amel (Camélia Jordana) im Meer schwimmt und die Kamera von Pierre-Hubert Martin zwischen Wasseroberfläche und Meerestiefe als quasi zwei Lebensbereichen changiert. Gleichzeitig kann man in Amels 13-jähriger Tochter Mouna (Rim Monfort) auch ein Alter Ego der 1982 in Paris geborenen Regisseurin sehen.
"Reine mère" spielt nämlich im Paris der frühen 1990er Jahre und fokussiert auf einer maghrebinischen Familie. Gegensätze prallen hier schon mit der vitalen und selbstbewussten Tunesierin Amel und ihrem duldsamen algerischen Mann Amor (Sofiane Zermani) aufeinander. Während er versucht, mit mehreren Jobs die Familie zu ernähren, zu der auch die Töchter Kenza und Mouna gehören, kümmert sie sich um den Haushalt.
Bringt sie die Kündigung der Pariser Mietwohnung in Rage, reagiert er gelassen. Während für sie ein Umzug in ein anderes Viertel oder gar in eine Banlieue nicht in Frage kommt, blickt er flexibel auf die Angebote des Wohnungsamts. Auch einen Job als Reinigungskraft will sie zunächst nicht annehmen und, als sie sich doch dazu bereit erklärt, verweigert sie zumindest die Arbeitskleidung und trägt stattdessen beim Putzen in der Universität Bluse und High Heels.
Aber auch Tochter Mouna macht Sorgen, als dieser nach einer Geschichtsstunde über Karl Martell (Damien Bonnard) und dessen Sieg über die Araber in der Schlacht bei Poitiers im Jahr 732 plötzlich der fränkische Hausmeier und Feldherr leibhaftig erscheint, aber selbstverständlich nur von ihr gesehen wird.
Wie Karl Martell ins Leben des Teenagers eintritt, erinnert an die Präsenz von Richard III. in Stephen Frears "The Lost King". Unterstützt dort der verfemte König eine Hobby-Archäologin bei der Suche nach seinem Grab und der Revidierung seines Bilds in den Geschichtsbüchern, so initiiert hier Karl Martell eine Auseinandersetzung Mounas mit ihrer Identität zwischen arabischer und europäischer Kultur. Gleichzeitig kommentiert und korrigiert dieser "Retter des Abendlands", der mit massigem Körper, ungepflegtem Bart und Krone in der Wohnung der Familie sitzt, aber auch sein eigenes Geschichtsbild, das um ihn im Laufe der letzten fast 1300 Jahre konstruiert wurde.
Wenn Labidi mit TV-Nachrichten den Kuwaitkrieg / Zweiten Golfkrieg (1990-91) ins Spiel bringt, will sie selbstverständlich eine Querverbindung zwischen dem mittelalterlichen Karl Martell und der Zeitgeschichte herstellen. Vertieft wird das damit angeschnittene Thema des schwierigen und oft von Krieg bestimmten Verhältnisses zwischen dem christlichen Westen und der islamischen Welt aber nicht.
Im warmherzigen Blick auf diese Familie, bei der die zweite Tochter Kenza am Rande bleibt, spürt man, dass Labidi genau weiß, wovon sie erzählt. Mit kräftigen Farben und leuchtenden Herbstbildern zeichnet sie ein zwar etwas chaotisches, aber doch liebevolles Familienleben, in dem es kaum schwerwiegende Konflikte oder Probleme zu geben scheint.
Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die tunesisch-französische Regisseurin ihrer Komödie keine klare Linie zu verleihen vermag. Da steht bald Amel im Mittelpunkt, die viermal bei der Führerscheinprüfung durchgeflogen ist, dann geht es wieder um Karl Martell bis hin zu einer schwarzweißen Traumsequenz, in der Amel mit ihm steppt, und auch die Visionen Mounas sowie die Suche nach einer neuen Wohnung beschäftigen das Paar immer wieder.
Kurz bringt Amel auch die Möglichkeit einer Rückkehr nach Tunesien ins Spiel und durchgängig ist ihr Wunsch zur französischen Gesellschaft dazuzugehören und ihre Angst vor sozialem Abstieg spürbar, doch nichts wird wirklich entwickelt.
Unterhaltsam bleibt so "Reine mère" mit seiner schnellen Szenenfolge und der lustvoll aufspielenden Camélia Jordana in der Rolle der Amel, doch Nachdruck entwickelt diese Auseinandersetzung mit den Problemen eines Lebens zwischen zwei Kulturen und jugendlicher Identitätssuche angesichts der zerfahrenen und nie tiefschürfenden Erzählweise nicht.
Reine mère
Frankreich / Belgien 2024
Regie: Manele Labidi
mit: Camélia Jordana, Sofiane Zermani, Damien Bonnard, Rim Monfort, Rita Montfort
Länge: 93 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Reine mère"
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