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  • AutorenbildWalter Gasperi

Rauschhaftes exzessives Leben: The Roaring Twenties


Nachdem die Filmreihe des Kinok St. Gallen zu den Goldenen – oder auch wilden, roaring – 1920er Jahre im letzten Dezember dem Lockdown zum Opfer fiel, wird diese nun ab 12. September nachgeholt. Der Bogen spannt sich von Georg W. Pabsts zeitgenössischem "Die Büchse der Pandora" über Francis Ford Coppolas "The Cotton Club" bis zu Baz Luhrmanns "The Great Gatsby".


Nach den Entbehrungen des Ersten Weltkriegs, dem Schock über den Zusammenbruch der alten Ordnung mit dem Sturz der Monarchien in Österreich-Ungarn, Deutschland und – durch die bolschewistische Oktoberrevolution – in Russland, der Spanischen Grippe, die 20 bis 50 Millionen Menschenleben forderte, Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Galoppierender Inflation in Deutschland folgte in den westlichen Staaten in den Jahren von 1924 und 1929 eine wirtschaftliche Blüte, die auch mit einer Sehnsucht nach ausgelassenem Leben verbunden war.


Wie die Arbeiterschicht konnten auch die Frauen durch und nach dem Ersten Weltkrieg ihre gesellschaftliche Stellung verbessern, neue Freiheiten sich sichern. Mit ihrem Einsatz an der "Heimatfront" während der Kriegsjahre erkämpften sie sich am Kriegsende in vielen westlichen Ländern das Wahlrecht. Sie ließen sich aber auch nicht weiterhin auf den Haushalt zurückdrängen, sondern waren auch in der Berufswelt der modernen Großstadt – vor allem als Sekretärinnen, Verkäuferinnen und Telefonistinnen – unentbehrlich.


Der Beginn der Massenproduktion durch den Einsatz von Fließbändern machte bald auch Autos – speziell in den USA – billiger und für viele erschwinglich. Hand in Hand mit der gesteigerten Mobilität ging eine Erleichterung der Hausarbeit durch die Erfindung von Elektrogeräten wie Waschmaschine, Staubsauger und Bügeleisen.


Die Elektrifizierung erweiterte aber auch die Lebens- und Freizeitmöglichkeiten. Die Nacht konnte zum Tag gemacht werden. Bei Flutlicht wurden sportliche Massenveranstaltungen wie Boxkämpfe oder Bahnradrennen durchgeführt, gleichzeitig blühten auch Clubs auf, in denen exzessiv gefeiert wurde.


Freizügiger und selbstbewusster traten nicht nur die Frauen auf, zogen mit Bubikopf und kurzen Röcken die Blicke der Männer auf sich, sondern auch die Künste befreiten sich von allen Regeln. Expressionismus, Dadaismus und Surrealismus bestimmten die Zeit, statt Walzer wurde nun auch Tango und Charleston getanzt, in dem durch Tempo und Dynamik die neue Lebenslust ebenso wie das Tempo der Großstadt zum Ausdruck kam, statt klassischer Musik bestimmte Jazz und Swing die Clubs.


Mit ihrer Rolle der Lulu in Georg Wilhelm Pabsts Frank Wedekind-Verfilmung "Die Büchse der Pandora" (1929) wurde die Amerikanerin Louise Brooks zum Inbegriff dieser neuen, lebenshungrigen Frau. Mehreren Männern bringt sie darin als Revue-Girl das Verderben, doch Pabst zeichnet Lulu nicht als kalt berechnenden, Männer verschlingenden Vamp, sondern als zwar verführerisch, aber kindlich naiv. Intensiv evozieren Pabst und Kameramann Günther Krampf in Großaufnahmen, die Brooks´ Gesicht durch kunstvolle Ausleuchtung eine besondere Aura verleihen, die Verführungskraft ihres Lächelns und ihrer Blicke.


Wie in diesem Film Lulu in Berlin, so behauptet auch die Amerikanerin Larita (Jessica Biel) in Stephen Elliotts vor Spielfreude sprühender Gesellschaftskomödie "Easy Virtue" (2008) ihre Unabhängigkeit. Dass sie mit dem alten Rollenkorsett nichts am Hut hat, zeigt sich schon darin, dass sie leidenschaftlich Autorennen fährt. In eine andere Welt kommt sie freilich, als sie die Familie ihres britischen Gatten auf dem Landsitz besucht.


Lustvoll lässt Elliott nicht nur die britische Klassengesellschaft mit strenger Trennung von Herrschaften und Dienerschaft auf eine offene Gesellschaft treffen, sondern auch moderne Maschinenwelt mit Traktoren, Autos und Motorrädern auf Traditionen wie Reiten und Fuchsjagd, vor allem aber unbändige Lebensfreude und Lebenslust auf stures Festhalten an Konventionen und Traditionen.


Baz Luhrmann lässt dagegen das Publikum in seiner Verfilmung von F. Scott Fitzgeralds Roman "The Great Gatsby" (2013) in die New Yorker Party-Welt der 1920er Jahre eintauchen. Mitreißend beschwört der Australier mit spektakulären Kamerabewegungen, überwältigender Ausstattung und Kostümen, für die Luhrmanns Ehefrau Catherine Martin verantwortlich zeichnet, und einem von Rapper Jay Z entworfenen Musikkonzept, bei dem mit Coverversionen und neuen Songs unter anderem von Beyonce, Lana Del Rey oder Bryan Ferry Jazz, Hiphop und Pop ineinander fließen, die Atmosphäre dieser ausgelassenen Parties und den hemmungslosen Hedonismus dieser Gesellschaft.


Nicht nur exzessives Feiern und Alkoholverbot auf der einen und Jazz und Kriminalität auf der anderen Seite zurrt Francis Ford Coppola dagegen in "The Cotton Club" (1984) zusammen, sondern auch zwei Filmgenres, die in dieser Zeit, in der auch der Stummfilm vom Tonfilm abgelöst wurde, geboren wurden. Denn gleichzeitig mit dem Gangsterfilm ("Underworld", Josef von Sternberg, 1927; "Little Caesar", Mervyn LeRoy, 1931; "The Public Enemy", William A. Wellman, 1931; "Scarface", Howard Hawks, 1932) kam Ende der 1920er Jahre mit dem Tonfilm auch das Musical auf. Die Dynamik der Zeit bestimmte beide Genres, dem stakkatoartigen Schnitt im Gangsterfilm, in dem auch die Gewalt nach außen gekehrt wurde, standen die extravaganten Choreographien der Musicals von Busby Berkeley ("42nd Street", 1933; "Gold Diggers of 1933", 1933) gegenüber.


Direkt an dieser Umbruchszeit im Film arbeitet sich Michel Hazanavicius in seinem als Stummfilm und im klassischen 4:3-Format gedrehten Oscar-Sieger "The Artist" (2011) ab. Mit visuellem Einfallsreichtum und großer Liebe zum Detail erzählt der Franzose nicht nur die schon oft erzählte Geschichte vom Niedergang eines Stummfilmstars und dem Aufstieg eines Starlets, sondern legt gleichzeitig eine wunderbare Liebeserklärung an das Kino und die Liebe vor.


Erweckt Hazanavicius das Hollywood der 1920er Jahre zum Leben, so sehnt sich Owen Wilson als Gil Pender in Woody Allens "Midnight in Paris" (2011) ins Paris der 1920er Jahre zurück – und tatsächlich gelingt ihm diese Zeitreise. In jedem Club und auf jeder Party trifft Pender so bald Berühmtheiten wie das Ehepaar Scott und Zelda Fitzgerald, Cole Porter, Ernest Hemingway, Luis Bunuel und Man Ray, muss aber in dieser federleichten Reflexion über das stets unbefriedigte Leben in der Gegenwart auch erkennen, dass für diese Künstler selbst die 1920er Jahre nicht das "Goldene Zeitalter" sind, sondern sie selbst lieber in früheren Zeiten wie der Belle Époque leben würden.


Während in Alan Rudolphs "The Moderns" (1988) ein skrupelloser Geschäftsmann in die Kunst- und Literaturszene des Paris der 1920er eintaucht, widmet sich der Niederländer Jan Kounen in dem opulent ausgestatteten "Coco Chanel & Igor Stravinsky" (2009) der Affäre zwischen dem aus Russland emigrierten Komponisten und der französischen Modedesignerin. Markant stellt Kounen dabei mit Chanel und der unter der Affäre ihres Mannes leidenden Ehefrau Stravinskys einer unabhängigen, aber auch skrupellosen modernen Frau, die sich nimmt, was sie will, einen traditionellen Ehefrauen- und Muttertyp gegenüber.


Diese Unabhängigkeit und Entschlossenheit kennzeichneten auch den dänischen Maler Einar Wegener, der sich als Frau fühlte und sich als einer der ersten Menschen 1930/31 einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog. Bieder, aber mit prächtiger Ausstattung und mit Eddie Redmayne in der Hauptrolle großartig besetzt erzählt Tom Hooper in "The Danish Girl" (2015) die Geschichte dieser intersexuellen Malerin, die aus dem homophoben Kopenhagen ins liberalere Paris floh, aber auch dort Anfeindungen ausgesetzt war. - So zeigt dieses Drama auch, dass trotz aller Freizügigkeiten Abweichungen von der heterosexuellen Norm nicht akzeptiert wurden und zu welchen Belastungen diese Zwänge bei den Betroffenen führten.


Abrupt beendet wurde dieser atemlose Tanz auf dem Vulkan der 1920er Jahre, bei dem man lebte, als ob es kein Morgen gäbe, durch den wirtschaftlichen Zusammenbruch nach dem Schwarzen Freitag vom 24. Oktober 1929. Nicht nur eine schwere wirtschaftliche Depression mit Massenarbeitslosigkeit folgte, sondern in der Krise fanden auch radikale Parteien vermehrt Zulauf und in Deutschland schickten sich die Nationalsozialisten an, die Macht zu übernehmen.


Detaillierte Filmbeschreibungen und Spieldaten finden Sie auf der Homepage des Kinok St. Gallen.


Trailer zu "The Cotton Club"


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