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AutorenbildWalter Gasperi

Rapito - Die Bologna-Entführung

Klassisch erzählt, aber konzentriert und aufwühlend: Marco Bellocchio zeichnet bewegend einen krassen Fall von Machmissbrauch durch die Katholische Kirche in der Mitte des 19. Jahrhunderts nach, bei dem ein jüdisches Kind auf Befehl des Papstes seinen Eltern entrissen wurde.


Filme über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten gibt es inzwischen einige. Am bekanntesten ist hier sicher das Oscar gekrönte Drama "Spotlight", in dem Tom McCarthy die Recherchen von Journalisten des Boston Globe zu zahlreichen Missbrauchsfällen in der amerikanischen Ostküsten-Metropole nachzeichnete.


Der 84-jährige italienische Altmeister Marco Bellocchio, der sich im Lauf seiner Karriere immer wieder mit der Geschichte seines Heimatlands beschäftigt hat ("Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra"), zerrt dagegen einen über 150 Jahre zurückliegenden Fall ans Licht, in dem es nicht um sexuellen Missbrauch, aber sehr wohl um einen krassen Fall von Machtmissbrauch geht. Im Mittelpunkt stehen dabei auch nicht einfache Priester oder Bischöfe, sondern mit Pius IX. (Paolo Pierobon) niemand geringerer als das Oberhaupt der Katholischen Kirche.


Eine knappe Einstiegsszene informiert über die Geburt Edgardo Mortaras als Kind jüdischer Bürger von Bologna im Jahr 1851 und schon springt Bellocchio ins Jahr 1858. Nachts klopfen von einem kirchlichen Beamten angeführte Soldaten bei den Mortaras an die Tür. Der Mutter (Barbara Ronchi) wird erklärt, dass Edgardo als Kleinkind heimlich von der katholischen Amme getauft worden sei und deshalb aufgrund des Kirchenrechts an die Kirche abgegeben und katholisch erzogen werden müsse. Die Eltern erhalten nach inständigen Bitten zwar einen Tag Aufschub, um sich zu verabschieden, doch dann wird der Knabe (Enea Sala / als Jugendlicher: Leonardo Maltese) abgeholt.


Die Würdenträger versprechen zwar, dass Edgardo in der Stadt bleiben werde, doch als der Vater (Fausto Russo Alesi) seinem Sohn Kleidung zum Wechseln bringen will, erfährt er, dass Edgardo nach Rom gebracht wurde. Dort wird er im Katechumenenhaus streng katholisch erzogen.


Abends betet er zwar in seinem Bett weiterhin auf Hebräisch das jüdische Nachtgebet, doch tagsüber wird er in die Rituale der katholischen Kirche und lateinische Gebete eingeführt. Eindringlich wird die Unsicherheit des Jungen in seinen Blicken auf Heiligenfiguren und Kruzifixe vermittelt, doch langsam scheint er sich in dieser Welt heimisch zu fühlen.


Vater und Mutter versuchen über die jüdische Community Bolognas, die weltweit die Medien mobilisiert, ihren Sohn zurückzubekommen. Die Karikaturen, in denen der Papst als Entführer angegriffen wird, verfolgen das Kirchenoberhaupt zwar in Alpträumen, doch erreichen sie nichts. "Non possumus" ("Wir können nicht") lautet das unumstößliche Urteil der noch allmächtigen Kirche.


Wirkungslos prallen auch die verzweifelten Bitten der Eltern ab. Reagiert Edgardo auf einen Besuch des Vaters eher zurückhaltend, so kommt es beim Besuch der Mutter zu einer hochemotionalen Szene, bei der Mutter und Sohn schließlich von einem Priester mitleidlos mit Gewalt getrennt werden.


Sorgfältig arbeitet Bellocchio diese intensive Mutterliebe heraus, nüchterner tritt der Vater auf. Aber auch die Macht der Kirche und des Papstes sowie deren Antisemitismus werden scharf und aufwühlend aufgezeigt, wenn die Vertreter der jüdischen Community Roms bei ihrem Bittgesuch beim Papst sich knieend dem Kirchenoberhaupt nähern und den Boden küssen müssen.


Gleichzeitig wird aber auch die bröckelnde Macht der Kirche sichtbar, wenn die königlichen Truppen 1859 das im Kirchenstaat liegende Bologna stürmen und der für die Verschleppung verantwortliche Priester verhaftet und vor Gericht gestellt wird. Das Drama wandelt sich damit vorübergehend zum Gerichtsfilm.


Der Prozess wird dabei mit der Firmung Edgardos unterschnitten, sodass der weltlichen Macht das kirchliche Ritual gegenübergestellt wird. Mit solchen Parallelmontagen zwischen Edgardos Familie und katholischen Feiern in Rom arbeitet Bellocchio durchgängig und kontrastiert so immer wieder jüdische und katholische Rituale.


Im Zentrum steht aber die Frage nach der prägenden Wirkung des Milieus, der Entfremdung des Kindes von seinen Eltern und der katholischen Indoktrination Edgardos. Versteckte sich Edgardo nämlich vor der Verschleppung unter dem Rock der Mutter, so sucht er später spiegelbildlich bei einem Spiel in den Vatikanischen Gärten Zuflucht unter der Robe des Papstes.


Wenn Bellocchio im Finale mit Zeitsprüngen den Film bis zum Sturz des Kirchenstaats im Jahr 1870 und dem Tod des Papstes 1878 spannt, bringt er auch die Ablöse der kirchlichen Macht durch den Nationalismus und die bürgerliche Herrschaft ins Spiel. Aber er kann so auch zeigen, wie die Indoktrination Edgardo dessen ganzes Leben prägte. Er kehrte nämlich auch im Erwachsenenalter nicht zum Judentum zurück, sondern widmete sich als katholischer Priester der Missionierung der Juden.


Bellocchio hat diese Geschichte als klassischen Historienfilm inszeniert. Er verzichtet auf Modernismen, zeichnet aber den Fall mit sorgfältiger Ausstattung und Bildsprache nach. Ruhige Szenen wechseln dabei immer wieder mit Momenten, die durch dynamischen Schnitt, aber vor allem durch aufdonnernde Musik opernhaft überhöht und emotional aufgeladen werden.


Beträchtliche Wut kann so dieses Drama über diesen wenig bekannten, aber erschütternden Fall von kirchlichem Machtmissbrauch auslösen und ist gleichzeitig mit der Schilderung der Indoktrination ein zeitloser Film über die Bedeutung von Erziehung und Identitätsverlust oder Identitätsbruch durch krassen Milieuwechsel im Kindesalter.

 


Rapito – Die Bologna Entführung Italien / Frankreich / Deutschland 2023 Regie: Marco Bellocchio mit: Leonardo Maltese, Enea Sala, Paolo Pierobon, Fausto Russo Alesi, Barbara Ronchi Länge: 134 min.



Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z. B. im Skino Schaan.


Trailer zu "Rapito - Die Bologna-Entführung"


 

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