Mit 112 Einsätzen in der Fußballnationalmannschaft und 81 Toren sowie einem Engagement in der US-Profiliga ist Marinette Pichon eine Galionsfigur und Legende des – zumindest französischen - Frauenfußballs. – Virginie Verrier zeichnet in ihrem Biopic nicht nur Pichons Karriere nach, sondern blickt auch auf deren Herkunft aus schwierigen familiären Verhältnissen und deren Homosexualität. – Überragend in der Hauptrolle Garance Marillier.
Die 1975 geborene Marinette Pichon begeisterte sich schon für Frauenfußball, als es dafür noch kaum Mannschaften gab, jede mediale Beachtung fehlte und Fußball spielende Mädchen von Jungs Spott und Hohn erfuhren.
Unvermittelt setzt das Biopic von Virginie Verrier, die bislang neben einem Spielfilm vor allem Fernsehserien drehte, 1980 mit der fünfjährigen Marinette ein. Entschlossen rennt das Mädchen ihrer Mutter davon zu einem Fußballfeld und folgt fasziniert dem Spiel. Der Trainer stellt sie auch sogleich in die Knabenmannschaft, wo sie ihre Ballkünste beweisen kann.
Statt Rock und Mädchenschuhen will sie Jogginghose und Turnschuhe. In der Schule zeigt sie wenig Interesse am Unterricht, ihre ganze Leidenschaft gilt einzig dem Fußball. Die Mutter unterstützt sie bedingungslos, doch zu Hause sind die Verhältnisse schwierig, denn der Vater ist ein gewalttätiger Alkoholiker, der schließlich auch noch eine ganz andere abgründige Seite zeigt.
Doch im Trainer der Jugendmannschaft hat Marinette einen Förderer, der auch dafür sorgt, dass sie, als sie als 16-Jährige nicht mehr in der Jungenmannschaft spielen darf, in die Frauenmannschaft von Olympic Saint-Memmie aufgenommen wird. Bald folgt auch der Ruf in die Nationalmannschaft, aber finanziell geht es erst aufwärts mit einem Engagement in der US-Profiliga, in der sie mehrfach zur besten Spielerin der Saison gewählt wird.
Von 1980 bis zu Pichons Rücktritt 2007 spannt Verrier in 95 Minuten den Bogen. Fakten werden in chronologischer Reihenfolge, die einzig von einigen überflüssigen kurzen Erinnerungen Marinettes unterbrochen werden, nachgezeichnet, doch Platz einer Szene oder Figuren Raum zu lassen und sie breiter und tiefer zu entwickeln bleibt nicht.
In einer Hauruck-Dramaturgie wird die Handlung vorangetrieben, aber echten Erzählfluss lassen die von zahllosen Inserts zu Zeit und Ort unterstützten kurzen Szenen nicht aufkommen. Hier wird nichts ausformuliert, nichts entwickelt, sondern im Stil eines Lexikonartikels gilt alles als gesetzt und als Faktum.
Da gibt es bei den Charakteren die liebevolle Mutter und den engagierten Jugendtrainer auf der einen Seite und das Ekel von Vater und zickige Mitspielerinnen im Nationalteam, die Marinette niedermachen, auf der anderen Seite. Ambivalenzen und Zwischentöne, die für Spannung sorgen könnten, fehlen aber völlig und auch Marinette selbst, die von Garance Marillier, die bislang vor allem mit Rollen in Julia Ducournaus "Raw" und "Titane" bekannt wurde, mit großem Körpereinsatz und Leidenschaft gespielt wird, bleibt in diesem hagiographischen Film auf eine makellose Lichtgestalt reduziert.
Steht am Beginn freilich nur ihre Fußballleidenschaft, so wird sie mit wachsendem Alter auch zur Beschützerin der Mutter gegen den brutalen Vater, wird zur Kämpferin für einen Profistatus des französischen Frauenfußballs, aber auch für die Akzeptanz gleichgeschlechtlicher Liebe.
So kurz dabei aber die Szenen zu häuslicher Gewalt bleiben, so kurz bleiben letztlich auch die Fußballszenen. Keinem Spiel wird wirklich Zeit gelassen, sondern kurz ein Auftritt mit einer tollen Aktion Pichons hier, kurz ein spektakuläres Dribbling mit Torschuss dort. - Eine Schlagzeile folgt quasi auf die nächste, doch auf die Story zur Schlagzeile wird verzichtet.
Und auf der anderen Ebene reicht ein Blick in einer Bar, dass eine Liebe ausbricht, bis wenig später die geliebte Sophie auch schon wieder aus dem Film verschwunden ist, oder dann gegen Ende quasi aus dem Nichts in der querschnittgelähmten Basketballerin Ingrid Marinettes Frau des Lebens auftaucht. – Auch die Musiksauce, die unnötigerweise vielen Szenen, speziell den Liebesszenen unterlegt ist, zeugt nicht gerade von Feingefühl.
Einen anschaulichen Überblick über das Leben der Ausnahmefußballerin bietet "Marinette" zweifellos und stellt auch – wenn auch viel zu vereinfachend - dem US-Profifußball mit viel Show und großem Publikum den kaum beachteten französischen Frauenfußball gegenüber, aber dem Faktengerüst fehlt es entschieden an künstlerischer Durchdringung und Gestaltung des Stoffes, durch die ein Film erst Leben und echte Spannung entwickelt.
Daran ändert auch ein "Rocky"-Zitat nichts, wenn Marinette wie einst Sylvester Stallone die Philadelphia Stairs hinaufsprintet: Es bleibt auch für Eingeweihte bei der simplen Information, dass die Fußballspielerin wie der Boxer den Aufstieg aus einfachen Verhältnissen an die Spitze geschafft hat.
Marinette Frankreich 2023 Regie: Virginie Verrier mit: Garance Marillier, Émilie Dequenne, Alban Lenoir, Fred Testot, Sylvie Testut, Caroline Proust, Louisa Chas, Yamé Pertzing, Franck Andrieux, Juliette Leroy Länge: 95 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen
Trailer zu "Marinette"
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