Sozialdramen über prekäre Lebensbedingungen in französischen Vorstädten gibt es schon einige. Lise Akoka und Romane Gueret reflektieren in ihrem ebenso vielschichtigen wie kraftvollen und intensiven Spielfilmdebüt aber auch die Produktion eines solchen Films und fragen nach dem Umgang mit jungen Laiendarsteller:innen und der Repräsentation des sozialen Raums.
Unsichtbar bleibt der Regisseur, wenn mehrere jugendliche Bewohner:innen der Cité Picasso im nordfranzösischen Boulogne-sur-Mer für einen Spielfilm vorsprechen, der hier gedreht werden soll. In langen Großaufnahmen sprechen die Teenager frontal in die Kamera über ihre Lebensverhältnisse. Während der 17-jährige Jessy (Loïc Pec) soeben eine dreimonatige Haftstrafe wegen Fahrens ohne Führerschein und Fahrerflucht abgesessen hat, hat die 16-jährige Lilly (Mallory Wanecque) den Krebstod ihres jüngeren Bruders nie überwunden. In Liebeleien mit Jungs sucht sie Halt und wird deshalb von den anderen als Schlampe beschimpft.
Der elfjährige Ryan (Timéo Mahaut) wiederum lebt bei seiner älteren Schwester, da seine psychisch kranke Mutter nicht in der Lage ist, sich um ihn zu kümmern. Die emotionale Vernachlässigung dürfte auch Ursache für seine schlechten Leistungen in der Schule und seine Neigung zu extremen Wutausbrüchen sein. Zurückhaltend agiert schließlich die etwa 15-jährige Maylis (Mélina Vanderplancke), die als Tomboy eine von den anderen Jugendlichen gemobbte Außenseiterin ist.
Wie ein Dokumentarfilm wirken diese Szenen des Castings und von Anfang an nehmen die Jugendlichen mit ihrem wachen, mal fröhlichen, mal traurigen Blick und ihrer Natürlichkeit gefangen. Der Spielfilmcharakter wird aber spätestens sichtbar, wenn der Dreh eines Sozialdramas thematisiert wird und "Les Pires" zwischen Film-im-Film-Szenen und dem Alltag dieser Teenager wechselt.
Wenn der 54-jährige flämische Regisseur Gabriel (Johan Heldenbergh) dabei lange unzufrieden mit der Emotionalität einer Szene ist und Ryan schließlich so weit treibt, dass sich der Junge in eine Wut hineinsteigert, in der er wie besinnungslos auf einen Gleichaltrigen einschlägt, fragen Lise Akoka und Romane Gueret, die als Casting-Direktorinnen und Coaches von Kinderdarsteller:innen eigene Erfahrungen in ihr Spielfilmdebüt einbringen konnten, auch nach der Verantwortung von Filmemacher:innen im Umgang mit Jugendlichen: Wie weit darf ein Regisseur gehen, wo werden Grenzen überschritten, Jugendliche emotional manipuliert und ausgebeutet?
Gleiches wird auch beim Dreh einer Sexszene thematisiert, für die Gabriel seine beiden Darsteller:innen mit einer Erzählung über persönliche Erfahrungen in die richtige Stimmung zu bringen versucht. Wie weit darf der Regisseur gehen, um Authentizität zu erreichen, wie weit darf er in die Intimsphäre seiner jugendlichen Darsteller:innen vordringen und wo beginnt die voyeuristische Ausbeutung? - Da mag dann ein Mädchen auch die Konsequenzen ziehen und trotz des Drängens des Regisseurs aus dem Filmprojekt aussteigen.
Gleichzeitig reflektieren Akoka / Gueret in diesen Szenen aber auch über ihren eigenen Film, denn auch ihre Protagonist:innen sind ja jugendliche Laiendarsteller:innen, die hier Alltagsszenen ebenso wie Filmszenen spielen. Gerade durch die Verbindung dieser beiden Ebenen entwickelt "Les Pires" aber ein höchstes Maß an Realismus, denn im Kontrast zu den Filmszenen wirken die Alltagsszenen immer wieder dokumentarisch.
Und zudem wird in einer Szene mit kritischen Anmerkungen einer Sozialarbeiterin zum Filmprojekt auch noch die Wirkung des Films hinterfragt. Denn einerseits wurden als Darsteller:innen nicht durchschnittliche Jugendliche ausgewählt, sondern Extremfälle und andererseits sieht die Sozialarbeiterin die Gefahr, dass mit dem Film wieder die Klischees über die Siedlung verstärkt werden, während Sozialarbeit und Politik doch gerade versuchen deren Ruf zu verbessern.
Mag speziell diese Szene auch etwas didaktisch wirken, so wiegt dieser Einwand doch gering, angesichts der hochreflexiven Machart einerseits und der energetisch-kraftvollen Erzählweise andererseits. Hautnah ist die Kamera nämlich immer an den Jugendlichen dran. Unglaublich authentisch agieren sie und sind in jeder Szene glaubwürdig. Dazu kommt der doppelte Boden, bei dem klassisches Sozialdrama, das einen berührenden Einblick in prekäre Lebensverhältnisse und begrenzte Zukunftsperspektiven von Jugendlichen bietet, und aufregende Auseinandersetzung mit der Ethik des Filmemachens bruchlos ineinander fließen.
Gleichzeitig feiern Akoka /Gueret, die für ihr Debüt beim letztjährigen Filmfestival von Cannes mit dem Hauptpreis der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet wurden, aber auch die Kraft und Faszination des Kinos, wenn Lilly sich über die Dreharbeiten von ihrer Trauer befreit und einen Zukunftstraum entwickelt und auch Ryan an sich selbst zu glauben lernt. – So steht am Ende dieses vibrierenden Debüts auch nicht Niedergeschlagenheit, sondern ein gestärktes Selbstbewusstsein, mit dem die Tür in die Zukunft - zumindest für den Augenblick - weit geöffnet wird.
Les Pires – The Worst Ones Frankreich 2022 Regie: Lise Akoka, Romane Gueret mit: Mallory Wanecque, Timéo Mahaut, Johan Heldenbergh, Loïc Pech, Mélina Vanderplancke, Esther Archambault, Matthias Jacquin Länge: 99 min.
Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Les Pires"
Comments