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  • AutorenbildWalter Gasperi

Im Kino: Das neue Evangelium


Milo Rau interpretiert nicht nur die Geschichte von Jesus vor dem Hintergrund der Flüchtlingssituation und sozialer Spannungen in Süditalien neu, sondern bezieht sich in seinem aufregenden und vielschichtigen Mix aus Spiel- und Dokumentarfilm auch immer wieder auf Pier Paolo Pasolinis legendären "Il Vangelo secondo Matteo".


Über 50 Jahre nach Pier Paolo Pasolinis "Il Vangelo secondo Matteo" kehrt Milo Rau in das in der süditalienischen Basilikata gelegene Matera zurück. In dieser schon 251 vor Christus gegründeten Stadt, deren Höhlensiedlungen zum UNESCO-Welterbe zählen, fand nicht nur einst Pasolini sein Jerusalem und Golgotha für seinen Jesus-Film, sondern 2003 auch Mel Gibson für "Die Passion Christi". Teile von "Der junge Messias" (2016) und "Maria Magdalena" (2018) wurden hier ebenso gedreht wie Szenen von "Wonder Woman" (2017) oder des letzten Bond-Films "Keine Zeit zu sterben" (2020).


Wie Pasolini sich für den sozialrevolutionären Gehalt des Evangeliums interessierte und mit seinem Film die Not im Mezzogiorno, der im krassen Gegensatz zum reichen Norditalien stand, anprangerte, so entwickelt der Schweizer Theaterregisseur seinen Film aus der Lage der hier in Lagern lebenden Flüchtlingen und der verarmten Kleinbauern. Pasolinis Film bringt er dabei nicht nur ins Spiel, indem er über den Drehort Matera spricht, sondern mehrfach blendet er auch Szenen dieses "besten aller schlechten Jesus-Filme" ein oder zeigt eine Vorführung des Films in einem kleinen Kino.


In aufregendem Mix verbindet Rau, der sich seit 20 Jahren in seinen Projekten mit den Widersprüchen der Weltwirtschaft und der Rolle Europas beschäftigt, dabei Inszeniertes mit Dokumentarischem. Einerseits stellt er im Stil eines klassischen Passionsspiels markante Passagen des Evangeliums mit originalen Textpassagen nach. Der Bogen spannt sich dabei von der Auswahl der Apostel über den Einsatz Jesus für die Ehebrecherin und die Versuchungen durch den Teufel bis zum letzten Abendmahl, der Auspeitschung und der Kreuzigung.


Das Besondere ist natürlich, dass in diesen Szenen reale, schwarze Flüchtlinge sowie der aus Kamerun stammende Politaktivist Yvan Sagnet die Hauptrollen spielen. Aber auch Pasolinis im September 2020 verstorbener Jesus-Darsteller Enrique Irazoqui schlüpft in die Rolle des Johannes des Täufers und Gibsons Maria Maia Morgenstern nochmals in die der Mutter des Messias. Auch Dorfbewohner bis hin zum Bürgermeister wirken in diesem Jesusfilm teils als Römer, teils als Bewohner von Jerusalem mit.


Gleichzeitig bricht Rau diese inszenierten Szenen immer wieder. Wie sein eigenes Making of wirkt "Das neue Evangelium", wenn man plötzlich den Regisseur selbst im Bild sieht, wie er bei der Probe der Auspeitschung in einer Kirche Anweisungen gibt, oder wenn sich bei der Kreuzigung mit dem Sprung der Kamera in die Totale plötzlich der Blick aufs Filmset öffnet.


Doch es wird nicht nur die biblische Geschichte mit der Produktion des Films verknüpft, sondern die Geschichte Jesu wird auch immer wieder in dokumentarischen Szenen mit der Realität im und um Matera kurz geschlossen und der aktuelle sozialrevolutionäre Gehalt der Botschaft von Jesus aufgezeigt. So bietet beispielsweise eine junge Frau im Anschluss an die Szene um die Ehebrecherin Einblick in den Straßenstrich, an dem junge Flüchtlinge etwas Geld verdienen, und die Flüchtlinge klagen in Interviews über die triste Wohnsituation in Containern ebenso wie über ihre Ausbeutung, wenn sie als billige Erntehelfer für den Reichtum der Einheimischen sorgen.


Ausgehend von dieser Bestandsaufnahme schildert Rau auch dokumentarisch die von Yvan Sagnet angeführte "Revolte der Würde" der Flüchtlinge, der sich auch die Kleinbauern der Region anschließen, die von großen Agrarunternehmen in den Bankrott getrieben wurden. In den Demonstrationen gegen diese Missstände, dem Ruf nach Papieren, sicherem Aufenthalt, Gerechtigkeit und eben vor allem nach Respekt und Würde ruft "Das neue Evangelium" aufrüttelnd die untragbare Lage der Flüchtlinge und die zunehmende soziale Kluft zwischen Reich und Arm in Europa in Erinnerung. Gleichzeitig fordert Rau durch die Verknüpfung dieser realen Protestbewegung mit dem Evangelium das angeblich "Christliche Europa" auf, hier zu reagieren und Partei zu ergreifen.


Das Spannende an diesem Projekt ist die Verknüpfung dieser Ebenen, die Erdung im Biblischen auf der einen Seite und wie Rau daraus der Botschaft des Evangeliums packende Aktualität verleiht. Wesentlich tragen zur Stärke dieses vielschichtigen Hybrids dabei auch die starken Migranten bei, die immer wieder zwischen Rolle und eigener Person und eigenen Erfahrungen changieren.


Aufregend macht diesen Film aber auch, wie Rau in der biblischen Geschichte Historisches mit Aktuellem mischt. Denn einerseits steigern sich die Bürger Materas in der Rolle von Peinigern Jesus bei Proben der Auspeitschung förmlich in einen Furor hinein, bei dem die Grenzen zwischen Spiel und echtem Hass auf die Flüchtlinge zu verschwimmen scheinen, andererseits tragen die Darsteller der Römer wieder historische Kostüme. Während man so einerseits in der biblischen Geschichte ist, ist man andererseits in der Gegenwart, wenn die Kreuzigungsszene von einer gaffenden Menge mit Handys fotografiert wird.


Gleichzeitig wird in dieser konkreten Szene plastisch die Gleichgültigkeit der westlichen Welt gegenüber der Not der Flüchtlinge und sozial Entrechteten auf den Punkt gebracht: Man folgt dem Elend in den Medien oder filmt es selbst, aber greift nicht ein, um zu helfen. Aber "Das neue Evangelium" macht auch Hoffnung, wenn gezeigt wird, wie die "Revolte der Würde" Wirkung zeigt, wenn Häuser errichtet werden, in denen die zunächst obdachlosen Statisten des Films in Würde und Selbstbestimmtheit leben können.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos - z.B. im Kinok St. Gallen


Trailer zu "Das neue Evangelium"


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