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  • AutorenbildWalter Gasperi

Heimat ist ein Raum aus Zeit


Mit Briefen und Tagebucheintragungen zeichnet Thomas Heise in seinem Opus magnum bruchstückhaft die Geschichte seiner Familie und damit die Geschichte Deutschlands während der letzten 100 Jahre nach. – So reduziert diese 218 Minuten sind, so spannend sind sie im ruhigen Fluss von Heises Stimme und den bestechenden Schwarzweißbildern, die immer in der Gegenwart bleiben, nichts rekonstruieren oder visualisieren.


Wenn Thomas Heise gegen Ende seines Films von einem Kinobesuch in Paris, bei dem nur fünf Leute in Jean-Luc Godards „Weekend“ saßen, erzählt, fühlt man sich auf sich selbst zurückgeworfen: Zwei Mal lief der Film in der letzten Woche am Spielboden Dornbirn, doch der einzige Besucher war der Rezensent. Gleichwohl wird man "Heimat ist ein Raum aus Zeit" nicht vorbei kommen, wenn am Ende des Jahres Abrechnung gehalten wird und Listen mit den Filmen des Jahres erstellt werden.


Ganz reduziert bleibt dieser Dokumentarfilm dabei auf der visuellen Ebene. Schon die erste Einstellung gibt den Takt vor, wenn die Kamera langsam eine Stange hochfährt bis zu einem Schild, auf dem steht „Nach der Legende stand hier Großmutters Haus“ und Bilder eines Freiluft-Märchenwaldes mit mannsgroßen Laubsäge-Figuren aus „Rotkäppchen folgen.


Die Vergangenheit wird nicht rekonstruiert, sondern Bilder von heute bieten den Resonanzraum, um Erinnerungen zu wecken, gleichzeitig auch die Veränderungen und die Vergänglichkeit bewusst zu machen. Immer wieder schweift die Kamera durch Wälder, zeigt leerstehende Arbeitersiedlungen, verfallende Häuser, blickt bei einer langen Straßenfahrt durch Wien durch die verregnete Rückscheibe oder auf eine belebte Berliner U-Bahnstation und immer sieht man Güterzüge in Bahnhöfe oder auch durch die Landschaft fahren.


Und mit diesen Zügen gleitet auch die Erzählung durch die Familiengeschichte der Heises, nicht immer chronologisch, nicht stringent aufgebaut, sondern so bruchstückhaft, wie das Material – Briefe, Fotos, Tagebuchauszeichnungen -, das Thomas Heise gefunden hat. Höchstens Fotos - und auch davon nur wenige - von diesen Menschen sieht man freilich, Heise liest aus dem Off ihre Texte vor. Keine Interviews gibt es, keine Zeitzeugen kommen zu Wort. Ganz auf den privaten Nachrichten ist der Film aufgebaut.


Als Leitlinie zieht sich aber neben den familiären Bindungen der Krieg als prägendes Element des 20. Jahrhunderts durch dieses monumentale Werk. Von einem Aufsatz Wilhelm Heises, des Großvaters des Regisseurs, im Jahre 1912 über die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, bis zu Christa Wolfs Kritik am ersten Golfkrieg 1991 spannt sich der Bogen.


Untrennbar verbunden sind die Familiengeschichte und die deutsche Geschichte. Privat sind noch Liebesbriefe und Tagebucheintragungen von Wilhelm Heise und seiner aus Wien stammenden jüdischen Ehefrau Edith Hirschhorn in den 1920er Jahren, aber auch hier vermittelt die beiläufige Bemerkung, dass ein Reclam-Heft vier Milliarden Reichsmark kostet plastisch den unglaublichen Wahnwitz der galoppierenden Inflation von 1923.


Der ganze Terror der Nazi-Herrschaft wird wenig später spürbar, wenn Wilhelm zunächst über seine Entlassung aus dem Staatsdienst aufgrund des Arierparagraphen und die jüdischen Wiener Verwandten dann in Briefen von der sich zuspitzenden Situation zwischen 1939 und 1941 bis zur Deportation berichten.


Wohl an die 20 Minuten fährt die Kamera zu diesen Briefen über eine Liste mit Namen und Adressen von Deportierten und Ermordeten, ehe am Ende die Leinwand schwarz wird und Marika Rökk – der einzige musikalische Kommentar im ganzen Film – singt „Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur geradeaus, und was dann auch kommt – mach dir nichts daraus.“ Auschwitz und Treblinka muss Heise nicht zeigen, die Länge dieser Liste und die Zeit, die sich der Film nimmt, um diese zu zeigen, macht das Ausmaß des Terrors mehr erfahrbar als jede Rekonstruktion des Holocaust.


Das zeigt sich auch in einer späteren Szene, wenn allein durch die Briefe Wolfgang Heises, des Vaters von Thomas Heise, der Schrecken der alliierten Bombenangriffe beschworen wird oder durch Tagebuchaufzeichnungen von Thomas Heises Mutter Rosemarie das Grauen des brennenden Dresden. Vulgär und pietätlos wirken im Vergleich zu diesen authentischen und schockierenden Schilderungen Nachinszenierungen dieser Ereignisse in TV- und Kinofilmen.


Über die familiäre Ebene geht Heise in der Nachkriegszeit hinaus, wenn Briefwechsel Wolfgang Heises, der Philosophieprofessor in der DDR war, mit Christa Wolf, Wolf Biermann und Heiner Müller ins Spiel kommen, aber auch hier wird wieder der Schrecken der Stasi spürbar, wenn aus Zeugenaussagen verschiedenster Nachbarn, die die Heises bespitzelten, zitiert wird.


Bei sich selbst kommt der Regisseur schließlich an, erinnert an seine Zeit in der Nationalen Volksarmee, aber auch an den rassistischen Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Rostock im August 1992, um dann ins Jahr 2014 zu springen und auch den nahen Tod der Mutter zu thematisieren.


218 Minuten lässt sich Heise Zeit, um diese Familiengeschichte zu erzählen. Ein schwerer Brocken könnte das sein, weil der Film visuell doch so reduziert bleibt, aber gerade die Reduktion trägt wesentlich zur Dichte und Spannung bei. Hier lenkt eben nichts ab, ganz auf die Texte kann man sich konzentrieren, kann die darin beschriebenen Gefühle nachempfinden und sich Bilder der Ereignisse im Kopf machen.


Und gleichzeitig lassen auch die gestochen scharfen Schwarzweißbilder von teils verfallenden Häusern, von aufgerissenen Straßen und Wäldern Raum zur Reflexion, laden ein über die Zeit, über Veränderungen und Vergänglichkeit nachzudenken. – In seiner Länge macht dieser große Dokumentarfilm diese zeitliche Komponente erst bewusst – und auch, dass Heimat eben mehr durch diese Zeit, als durch einen Ort geschaffen wird.


Trailer zu "Heimat ist ein Raum aus Zeit"



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