Eine verwitwete Religionslehrerin trifft sich wiederholt mit einem jungen Sexarbeiter in einem Hotelzimmer: Sophie Hyde gelang ein feinfühlig inszeniertes, tragikomisches Kammerspiel, das vom Dialog lebt und doch ganz Film ist und von großartigen schauspielerischen Leistungen von Emma Thompson und Daryl McCormack getragen wird.
Ein riskantes Unterfangen ist es im Medium Film, das vom Bild lebt, sich weitgehend auf zwei Menschen zu beschränken und diese sich in einem geschlossenen Raum rund 90 Minuten unterhalten zu lassen. Leicht könnte so etwas das Publikum langweilen. Feingefühl, herausragende Schauspieler*innen und präzise Dialoge sind nötig, denn Augenfutter und Spektakel wird hier nicht geboten.
Vor gut 40 Jahren hat Louis Malle mit "Mein Essen mit André" (1981) gezeigt, wie das wunderbar funktionieren kann. Der Franzose ließ zwei Künstler in einem New Yorker Lokal so anregend über Gott und die Welt diskutieren, dass die zwei Stunden wie im Flug vergingen.
Thematisch enger gefasst sind die Gespräche zwischen der verwitweten Religionslehrerin Nancy (Emma Thompson) und dem jungen farbigen Sexarbeiter Leo (Daryl McCormack). In erster Linie geht es nämlich um Sex, doch damit geht es bald auch um Offenheit, um Lebensfreude und Erfüllung, die an die Stelle von Verkrampfung, Verdrängung und Einsamkeit treten sollen.
Eine große Bühne bietet Sophie Hydes Kammerspiel (Drehbuch: Katy Brand) vor allem Emma Thompson. Wunderbar ist es, ihr zuzusehen, wie nervös und unsicher sie beim ersten Treffen im Hotelzimmer auf den jungen Leo wartet und wie sie von Treffen zu Treffen lockerer, gelöster und glücklicher wird.
Offen gesteht sie Leo, dass sie in 30 Ehejahren nie erfüllten Sex hatte, sondern dieser von ihrem Mann immer quasi mechanisch vollzogen wurde. Nun wolle sie auch Neues ausprobieren, doch wenn sie beim zweiten Treffen eine To-do-Liste sexueller Praktiken präsentiert, lässt das kaum Lust aufkommen, sondern erscheint als selbstauferlegte zwanghafte Pflichterfüllung.
Nicht nur in ihrem sich von Treffen zu Treffen verändernden Gesichtsauszug, sondern auch in der wechselnden Kleidung werden ihre Öffnung und ihre langsam wachsende Selbstachtung spürbar. Von der grauen Maus, die ihren Körper für hässlich hält, wandelt sie sich zur Frau, die in der letzten Einstellung ihren nackten Körper zufrieden und mit einem Lächeln im Spiegel betrachtet.
Auch nach Außen öffnet sie sich aber, wenn sie in der einzigen Szene, die außerhalb des Hotelzimmers spielt, in der Lobby des Hotels einer ehemaligen Schülerin schließlich offen erklärt, dass Leo ein Sexarbeiter sei. Dabei entschuldigt sie sich auch für ihr einstiges lustfeindliches Verhalten als Lehrerin.
Entscheidend für diese Entwicklung Nancys ist der von ihr gebuchte Leo. Ein Gegenpol zu der etwa Sechzigjährigen, die ihre Kleidung zunächst wie einen Panzer um sich trägt, ist dieser offene, blendend aussehende dreißigjährige Mann. Mit viel Einfühlungsvermögen kommt er der Witwe langsam näher. Er lässt ihr Zeit und drängt sie zu nichts, hört ihr zu und spricht mit ihr auch über ihre Kinder, während ihn ihre Fragen über seine Mutter zunehmend nerven.
Während Nancy immer mehr über den Hintergrund von Leo wissen will und dabei schließlich auch Grenzen überschreitet, betont Leo, dass nur das Hier und Jetzt des Hotelzimmers zähle. Ohne jeden Gedanken an die Außenwelt könne sie hier sie selbst sein und ihre Fantasien ausleben.
Diese Abkoppelung von der Welt zeigt sich auch darin, dass nicht nur Leo, sondern auch Nancy sich im Hotelzimmer unter falschem Namen begegnen. Erst die ehemalige Schülerin wird sie in der Lobby mit ihrem wahren Namen Mrs. Robinson ansprechen, der freilich wieder Assoziationen an die verführerische Mutter in Mike Nichols´ Klassiker "Die Reifeprüfung" ("The Graduate") weckt.
Auf explizite Sexszenen kann Sophie Hyde getrost verzichten, lässt zwar offen alles ansprechen, bleibt aber dezent in der Darstellung. Viel Feingefühl beweist die gebürtige Australierin bei der Inszenierung und auch wenn "Good Luck to You, Leo Grande" weitgehend in einem Raum spielt, hat das nichts mit abgefilmtem Theater zu tun, sondern ist ganz Film.
Denn wie Hyde in genau getaktetem Rhythmus in Schuss-Gegenschuss-Verfahren zwischen ihren beiden Protagonist*innen wechselt, so vermittelt sie auch in Nahaufnahmen von Berührungen und Gesten ein Gefühl für die Bedeutung von Zärtlichkeit und Körperlichkeit. Während im Theater die Zuschauerperspektive immer dieselbe ist, akzentuieren im Film Einstellungswechsel Momente. Sinnlichkeit entwickelt diese Tragikomödie, die trotz des Themas nie schlüpfrig wird, sondern durch ihre sichere Balance zwischen Witz und Ernst berührt, so in den Nahaufnahmen der Berührungen, während eine Kamerarückwärtsfahrt, die Nancy im Raum isoliert, eindrücklich ihre Einsamkeit vermittelt.
So klein "Good Luck to You, Leo Grande" von der Anlage her ist, so großartig ist er nicht nur in Inszenierung und Schauspiel, sondern auch in seiner menschlichen Tiefe und seinem Plädoyer für ein lustvolles und offenes Leben, das Menschen aufblühen statt verkümmern lässt. Kein Wunder ist es folglich, dass Nancy Leo, der für sie vom bezahlten Sexarbeiter zunehmend zum Sex- und Lebenstherapeuten geworden ist, auch ihren Freundinnen empfiehlt und sich dafür ausspricht, dass Dienste von Sexarbeiter*innen von der öffentlichen Hand bezahlt werden sollten.
Good Luck to You, Leo Grande - Meine Stunden mit Leo Großbritannien 2022 Regie: Sophie Hyde mit: Daryl McCormack, Emma Thompson, Isabella Laughland Länge: 97 min.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn und Skino Schaan
Trailer zu "Good Luck to You, Leo Grande - Meine Stunden mit Leo"
Comments