Der 70. Band der Reihe Film-Konzepte widmet sich dem filmischen Schaffen der 1981 geborenen Französin Mia Hansen-Løve, die sich mit ihren acht Filmen als eine der wichtigen Filmemacherinnen des aktuellen Kinos etabliert hat.
Gerade einmal 70 Seiten umfasst der 70. Band der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte, bietet aber mit einer Einleitung und fünf tiefschürfenden und präzisen Essays einen vielschichtigen Einblick in das filmische Schaffen Mia Hansen-Løves. Keine neuen Artikel werden dabei präsentiert, sondern vielmehr wurden bisher teils in Blogs erschienene Beiträge gesammelt, überarbeitet und erweitert und auch ein Essay der Britin Kate Ince wurde aus ihrem Buch über die 43-jährige Französin übernommen und ins Deutsche übersetzt.
Wie Herausgeberin Linda Waack in ihrer Einleitung erläutert, ist aber nicht nur das bisherige Fehlen einer deutschsprachigen Sammelpublikation zu Hansen-Løve der Grund für diese Präsentation, sondern auch die mangelnde Repräsentation von Frauen als Filmschaffende insgesamt. Auf diesen Aspekt geht auch Hannah Pilarczyk in ihrem Beitrag zu "Bergman Island" (2021) ein. Der Abwertung von Hansen-Løves Alter Ego in diesem Film durch die Feststellung, dass man von ihr als Filmregisseurin kein Meisterwerk wie Ingmar Bergmans "Persona" erwarte, stellt die Autorin die Qualitäten von Mia Hansen-Løves Filmen gegenüber, vor allem die Zärtlichkeit und Leichtigkeit von "Un beau matin" ("An einem schönen Morgen", 2022), angesichts derer man wirklich keinen Bergman-Film mehr erwarten müsse.
Elena Meilicke blickt am Beispiel von "L´avenir" ("Alles was kommt", 2016) auf das Fließende in den Filmen der Porträtierten und den Übergang von Verlust und Neubeginn. Die Autorin stellt dabei auch Bezüge dieses Films zu "Sils Maria" von Mia Hansen-Løves damaligem Partner Olivier Assayas her, zeigt die Rolle des Musikeinsatzes auf und arbeitet heraus, wie das Porträt der von Isabelle Huppert gespielten Protagonistin in politische Bewegungen eingebettet wird.
Auch in Till Kadritzkes Beitrag spielt das Fließende von Hansen-Løves Filmen eine zentrale Rolle. Präzise arbeitet der Autor nicht nur heraus, wie die Französin immer wieder von eigenen Erfahrungen und ihrem bürgerlich-gebildeten Milieu ausgeht, sondern auch wie die Figuren in einen disparaten Alltag und vielfältige Beziehungen und Abhängigkeiten eingeflochten sind. Trotz Plotploints gebe es dabei keine großen Brüche, sondern das Leben gehe in diesen Filmen nach dem Tod des Vaters oder der Trennung vom Ehemann einfach weiter und am Rand entstehe ein neues Zentrum, sodass den Enden weniger ein neuer Anfang als vielmehr eine Weiter-Gabe innewohne.
Kate Ince spürt dagegen den Einflüssen der Filme von Éric Rohmer und Robert Bresson nach. Auf eine Schilderung von Szenen des Spiels und der Verspieltheit sowie der romantischen Liebe und der pastoralen Schönheit in ihren Filmen folgt dabei der Blick auf die katholische Religiosität des Vaters in "Le père de mes enfants" ("Der Vater meiner Kinder", 2009) und auf Hansen-Løves vom eigenen Studium beeinflusstes Interesse an der philosophischen Idee der Sympathie. Letztere führe zu einer Offenheit ihrer Filme im Sinne von Wahrhaftigkeit und zu einer gleichwertigen Behandlung mehrerer Protagonist:innen anstelle der Bindung an eine Hauptfigur. Damit komme auch eine große Bandbreite an Emotionen von romantischer Liebe bis zu Verzweiflung, von Trennung bis zu Tod in ihre Filme.
Abschließend blickt Lina Waack auf die Rolle der Kunst in den Filmen der Französin. In detailreicher Schilderung einzelner Szenen zeigt die Autorin dabei auf, wie die Protagonistinnen von "Un amour de jeunesse" aus Ausführungen über die Architektur bzw. von "Tout est pardonné" durch ein Gedicht von Joseph Eichendorff nicht nur für ihr Leben lernen, sondern wie sich diese Ausführungen bzw. das Gedicht sich auch im Film selbst spiegeln. In der Verbindung von Lebensthemen mit ästhetischer Modellbildung mache Hansen-Løve Angebote eines künstlerischen Lebens oder eines Lebens mit(hilfe) der Kunst.
Abgerundet wird der ebenso spannende wie aufschlussreiche Band, dessen Beiträge durch Filmstills aufgelockert werden, wie gewohnt bei dieser Reihe durch eine kurze Biografie sowie eine Filmografie.
Linda Waack (Hg.), Film-Konzepte 70: Mia Hansen-Løve, Edition text + kritik, München 2023. 78 S., € 28, ISBN 978-3-96707-807-7
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