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  • AutorenbildWalter Gasperi

Filmbuch: Frederick Wiseman – Das Schauspiel der Gesellschaft

Im Bertz+Fischer Verlag ist in der Reihe Deep Focus ein von Hannes Brühwiler herausgegebener Band erschienen, der in 17 Aufsätzen einen vielschichtigen Einblick in das Schaffen des großen Dokumentarfilmers Frederick Wiseman bietet.


Rund 45 große Dokumentarfilme hat der 1930 in Boston geborene Frederick Wiseman in den letzten sechs Jahrzehnten gedreht. Von seinem Debüt "Titicut Follies" (1967), in dem er auf einer Anstalt für psychisch kranke Straftäter fokussierte, über den Krankenhaus- und Sterbefilm "Near Death" (1989) bis zu "National Gallery" (2014) und "Ex Libis – The New York Public Library" (2017) hat der studierte Jurist sich dabei als Meister im Durchleuchten von Institutionen erwiesen.


Seine Methode ist stets die gleiche. Auf Interviews, erklärenden Kommentar und zusätzliche Musik wird verzichtet, dennoch sieht Wiseman selbst seine Filme nicht als Dokumentarfilme, sondern als "reality fiction". Entscheidend gestaltet er nämlich seine Filme durch die Montage, die jeweils viel Zeit einnimmt und in deren Prozess er selbst in den das Buch abschließenden Tagebuchauszügen am Beispiel der Arbeit an "Zoo" (1993) und "Highschool 2" (1994) Einblick bietet.


Auch den Auftakt macht der Porträtierte selbst, wenn er anhand eines Fotos der amerikanischen Dokumentar- und Straßenfotografin Jill Freedman deutlich macht, wie vielfältig Bilder interpretiert werden können und wie einfach alle Interpretationen durch eine Bildunterschrift wieder über den Haufen geworfen werden können.


Eine kluge Entscheidung war es auch angesichts des umfangreichen Œuvres nicht zu versuchen, alle Filme Wisemans einzeln vorzustellen, sondern auf einen ersten Teil mit Aufsätzen, die sich speziellen Aspekten dieses Werks widmen, nur auf sechs Filme in Einzelanalysen genauer zu blicken. Aber auch die Mischung von Filmwissenschaftler:innen und Filmemacher:innen bei den Autor:innen trägt nicht unwesentlich zur Vielfalt dieses Buches bei, haben die Praktiker doch einen ganz anderen Blick auf die Filme als die Theoretiker.


Herausgeber Hannes Brühwiler zeigt in seiner Einführung am Klosterfilm "Essene" (1972) und an dem am Panama Kanal gedrehten "Canal Zone" (1977) auf, wie Wiseman immer an etwas Spezifischem Allgemeines herausarbeitet. Im Zentrum stehen dabei für Brühwiler immer Interaktionen zwischen Individuen und der jeweiligen Gesellschaft, um so Machtstrukturen sichtbar zu machen.  


Einen ebenso spannenden wie aufschlussreichen Einblick in Wisemans Arbeitsweise, sein Denken und die Wahl seiner Themen bietet ein von Hannes Brühwiler und Jean Perret moderiertes Publikumsgespräch, das 2022 während der Retrospektive im Berliner Arsenal Kino mit dem Filmemacher geführt wurde.


Während Carmen Bui an "Central Park" (1989), "Public Housing" (1997) und "In Jackson Heights" (2015) herausarbeitet, wie Wisemen die Stadt als Möglichkeitsraum darstellt, widmet sich Arnaud Hée der Inszenierung von Worten und Sprache sowie der Beziehung von Sender und Empfänger.


Hanna Engelmeier zeigt dagegen auf, wie durch die vielfältige Präsenz des Lesens in den Filmen des Amerikaners die Bedeutung dieser Kulturtechnik bei der Teilhabe an der Gesellschaft und ihren Errungenschaften vermittelt wird. Bei sissi tax lösen wiederum die Filme "The Model" (1980) und "The Store" (1983) vielfältige Assoziationen an Filme wie Mitchelle Leisens Screwall-Komödie "Easy Living", Jerry Lewis und Frank Tashlins "Who´s Minding the Store" oder "Paul Schraders "American Gigolo" aus.


Patrick Holzapfel arbeitet, unterstützt von Bildfolgen, sehr anschaulich heraus, wie meist menschenleere "Brückenbilder" nicht nur Stimmungen schaffen und Orts- und Zeitwechsel signalisieren, sondern auch das Eintauchen in den Film ermöglichen, als Überleitung zwischen Szenen fungieren oder ein Durchatmen nach einer intensiven Gesprächsszene ermöglichen.


Während der Filmemacher Mischa Hedinger sich auf Basis seiner Bachelorarbeit am Beispiel von Wisemans "The Store" und Harun Farockis "Schöpfer der Arbeitswelten" die unterschiedliche Methode der beiden Filmemacher aufzeigt, untersucht Jean Perret, wie Wiseman durch den Schnitt lange Sequenzen strukturiert und Zeit verdichtet.


Auf diese übergreifenden Beiträge folgen sechs Aufsätze zu einzelnen Filmen. So geht der Dokumentarfilmer Gerd Kroske nicht nur auf den Schock ein, den der Psychiatriefilm "Titcut Follies" (1967) auslöste, sondern er spürt auch den Gründen für das jahrzehntelange Aufführungsverbot dieses Debüts nach. Der Filmemacher Henner Winckler zeigt dagegen auf, wie Wiseman "Welfare" (1975) auch ohne Inszenierung vor der Kamera durch Kameraposition, Schnitt und Auswahl des Materials gestaltet.


Alejandro Bachmann setzt sich wiederum mit der wenig beachteten "Deaf and Blind"-Tetralogie auseinander. Er geht dabei der Frage nach, ob diese Nichtbeachtung mit der gesellschaftlichen Unsichtbarkeit von Menschen mit Behinderung zusammenhängt und arbeitet heraus, wie Wiseman dieser Unsichtbarkeit entgegenarbeitet und den Zuschauer:innen ihre eigene Limitiertheit im Sehen und Hören bewusst macht.


Nicolas Wackerbarth blickt auf den Krankenhaus- und Sterbefilm "Near Death" (1989). Dabei arbeitet der Filmjournalist und Filmemacher heraus, dass der Film nicht nur die Frage aufwirft, unter welchen Bedingungen ein Leben lebenswert ist, sondern dass hier mit vorwiegend männlichen und weißen Ärzten auf der einen Seite und weiblichen People of Color als Putzpersonal auf der anderen Seite auch Machtverhältnisse aufgedeckt werden.


Während Tilmann Schumacher auf Wisemans Fokussierung auf Arbeitsprozesse in "Belfast, Maine" (1991) blickt, widmet sich Courtney Stevens den Unterschieden zwischen "Domestic Violence" (2001), in dem eine Anlaufstelle für Opfer häuslicher Gewalt im Zentrum steht, und "Domestic Violence 2" (2002), in dem der Umgang des Gerichtssystems mit häuslicher Gewalt gezeigt wird.


Abgerundet wird das nicht nur durch seine inhaltliche Fülle, sondern auch durch den flüssigen, nie akademisch-trockenen Schreibstil beeindruckende Buch durch eine Filmographie, die nicht nur Credits bietet, sondern bei der die einzelnen Filme auch mit kurzen Kommentaren vorgestellt werden. Dazu kommen ein Überblick über Filme, bei denen Wiseman in anderen Funktionen wie Co-Regisseur, Produzent oder Darsteller mitarbeitete, ein Überblick über ausgewählte Theaterarbeiten sowie ein Index, der Personennamen und Filmtitel enthält.

 

 

Hannes Brühwiler (Hg.), Frederick Wiseman. Das Schauspiel der Gesellschaft, Deep Focus 35, Bertz + Fischer Verlag, Berlin 2023, 188 Seiten, 16 Farbseiten, 156 Fotos, € 29, ISBN 978-3-86505-338-1

 

 

 

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