Mit dem 51-jährigen Briten Ben Wheatley stellt der 69. Band der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte einen Filmemacher vor, der noch nicht auf große Festivalerfolge verweisen kann, dessen ebenso vielfältiges wie eigenwilliges Werk aber zu einer genaueren Analyse herausfordert.
Vertiefte Einblicke in das Werk bekannter Regisseure von Quentin Tarantino über Ulrich Seidl und Roy Andersson und Andrea Arnold bis zu Andreas Dresen und Ridley Scott bieten die Bände der bei et+k erscheinenden Reihe Film-Konzepte bislang. Nun steht mit Ben Wheatley ein Regisseur im Zentrum, der sich in kaum eine Schublade einordnen lässt und neben eigenwilligen Genre-Hybriden zuletzt auch den von der Kritik großteils zerrissenen Jason-Statham-Actionfilm "The Meg 2" gedreht hat.
In neun, wie gewohnt sehr fundierten und differenzierten Essays werden mit Ausnahme des Langfilmdebüts "Down Terrace" (2009) und "The Meg 2" alle acht Filme Wheatleys analysiert. Herausgeber Sascha Seiler bietet in seinem einleitenden Beitrag einen Überblick über das disparate Werk des Briten und dessen Changieren zwischen Arthouse-Horror und Mainstream-Kino.
Immer wieder geht es in den Essays um die aktuelle Situation Großbritanniens. So sieht Marcus Stiglegger in seinem Beitrag zu "Kill List" einen Film, der in der Tradition des Paranoia-Thrillers, aber auch in Bezug zur Opfertheorie René Girards steht. Indem Wheatley dabei mit drastischen Metaphern die Mechanismen des Kapitalismus an ihren destruktiven Endpunkt treibe, werde sein Genrehybrid auch zu einer bitteren Gegenwartsdiagnose.
Lioba Schlösser arbeitet dagegen heraus, wie ein touristischer Blick durchgängig "Sightseers" bestimmt. In diesem Mix aus Roadmovie und schwarzer britischer Satire mit Splatter-Elementen besichtigt ein Touristen-Pärchen nicht nur Sehenswürdigkeiten, sondern dessen unmotivierten und folgenlos bleibenden Morde werden mit dieser Freizeitgestaltung gleichgesetzt.
Mark Schmitt wiederum zeigt auf, wie Wheatley in "A Field in England" und "Happy New Year, Colin Burstead" das politisch-ideologische Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs einerseits in einem historischen Film und andererseits im Treffen einer dysfunktionalen Familie verarbeitet. Dabei untersucht der Autor auch die Wechselwirkung von Genre und nationaler Identität sowie Wheatleys Strategie der Desorientierung und seine Arbeit mit Vorbildern.
Während Benjamin Johann in der J.G. Ballard-Verfilmung "High-Rise" einen Film sieht, der "von der Schwierigkeit, der Unfähigkeit oder dem Unwillen derer erzählt, die zwar revoltieren oder sich progressiv wähnen, sich letztlich aber nicht von traditionellen Ideen verabschieden können" (S. 57f.), arbeitet Andreas Rauscher heraus, wieso "Free Fire" kein weiterer Abklatsch von Tarantinos "Reservoir Dogs" ist. Wheatleys Film beginne zwar mit einem typischen Tarantino-Szenario, verändere dann aber das Genre, indem er auf Entschleunigung setze und sich an 1970er Jahre Actionfilmen wie John Carpenters "Assault on Precinct 13" orientiere.
Bianca Jasmina Rausch stellt in ihrer Analyse von "Happy New Year, Colin Burstead" dieses Porträt einer dysfunktionalen Familie in die Tradition von Thomas Vinterbergs "Festen - Das Fest" und Robert Altmans "Eine Hochzeit". Die Autorin arbeitet aber auch die vielfältigen familiären Beziehungen, parallel ausgefochtenen Konflikte und unterschiedlichen Haltungen der Familienmitglieder heraus, die sich durch diesen, von einem 19-köpfigen Ensemble getragenen, vielschichtigen Film ziehen.
Eindrucksvoll zeigt Michael Feig in seinem Essay zur Netflix-Produktion "Rebecca" Wheatleys feministische Relektüre von Daphne du Mauriers Roman und Alfred Hitchcocks Erstverfilmung auf. Ausgehend von den "Cinderella"- und "Gothic Romance"-Elementen des Stoffs analysiert Feig detailliert die Veränderungen Wheatleys. Die bei Hitchcock negativ gezeichnete verstorbene Rebecca ist hier nämlich eine selbstbewusste Frau, die versuchte, gegen eine einengende Ehe ihre Freiheit zu bewahren, und das Anwesen Manderley erscheint als Symbol des Patriarchats, gegen das Rebecca auch noch aus dem Jenseits im Stil eines japanischen Rachegeists revoltiert. Der bei Hitchcock von Laurence Olivier gespielte Hausherr erscheint hier dagegen als Mörder Rebeccas und seine zweite Frau als diese Tat deckende Mitwisserin.
Abschließend beschreibt Herausgeber Sascha Seiler Wheatleys während der Covid-19-Pandemie entstandenen "In the Earth" als dystopischen ökologischen Folk-Horror. Auf Basis einer detaillierten Beschreibung des Inhalts arbeitet Seiler dabei das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Natur und die erfolglosen Versuche, diesen Bruch durch Wissenschaft und animistische Rituale zu beseitigen, als zentrale Themen heraus.
Wie gewohnt runden eine kurze Biographie und eine Filmografie, die sich auf Titel und Entstehungsjahr der Filme beschränkt, den Band ab.
Sascha Seiler (Hg.), Film-Konzepte 69: Ben Wheatley, Edition text + kritik, München 2023. 116 S., € 28, ISBN 978-3-96707-805-3
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