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  • AutorenbildWalter Gasperi

Fasziniert vom Exotischen und Fremden: Zum 80. Geburtstag von Ulrike Ottinger


Ulrike Ottinger (geb. 6.6. 1942)

Der Ferne Osten hat es der am 6. Juni 1942 in Konstanz geborenen Ulrike Ottinger angetan. Mehrere große Dokumentarfilme brachte sie von ihren Reisen nach China, Japan und in die Mongolei mit. Aber auch in der näheren Umgebung interessierte sie sich vor allem für das Exotische und Fremde oder verfremdete das Vertraute mit surrealer Bildsprache. Das Österreichische Filmmuseum widmet der eigenwilligen Künstlerin anlässlich ihres 80. Geburtstags am 6. Juni eine Retrospektive ihres filmischen Gesamtwerks.


Ihrer Faszination für das Schräge und Besondere konnte Ulrike Ottinger auch in ihrem Dokumentarfilm "Prater" (2007) frönen. In den Schießbuden und Achterbahnen, den Tanzhallen und Gasthäusern, den Autodromen und Kettenkarussellen, dem Kasperletheater und dem Watschenmann sowie den Geisterbahnen bis hin zum spektakulären Ejection Seat, mit dem man sich in den Himmel schießen lassen kann, fand die Filmemacherin ein ideales Sujet.


Für die wirtschaftlichen Verhältnisse der Schaubudenbesitzer, ihren Alltag und ihre soziale Situation oder die historische Entwicklung des 1895 eröffneten Wiener Vergnügungsparks interessiert sie sich nicht. Sie reiht vielmehr ganz im Stil der Karusselle und Ringelspiele rondoartig Bilder von verschiedenen Attraktionen aneinander und blickt mit Fotos, Postkarten und alten Filmaufnahmen auf die Anfänge des Praters zurück.


Nicht vorwärts drängt dieser Film, sondern mäandert zwischen Zeit und Attraktion hin und her. Assoziationen werden dabei durch überraschende Zwischenschnitte ausgelöst, wenn den Bildern eines afrikanischen Dorfs, das 1897 im Prater als Attraktion präsentiert wurde, eine indische Großfamilie von heute gegenübergestellt wird, die als Touristen den Vergnügungspark besuchen. Oder wenn durch Einblenden eines alten Fotos, die porträtierten Personen zu Zuschauer*innen einer aktuellen Attraktion werden.


Den hypermodernen, rasend-schnellen Karussellen und Bahnen von heute stehen dabei Bilder von einst gegenüber, als Meeresfahrten, Nordpolexpeditionen oder Afrikareisen simuliert und Menschen ausgestellt wurden – nicht nur Afrikaner, sondern auch Missgebildete wie siamesische Zwillinge oder der "Mann ohne Unterleib" und Liliputaner.


Für solche Außenseiter und Abnormitäten interessierte sich Ottinger seit den Anfängen ihrer filmischen Laufbahn. Doch vor dem Kino stand nach einer Banklehre die Beschäftigung mit der Malerei. Von München führte diese die 1942 in Konstanz geborene Ottinger 1962 nach Paris, wo sie Radiertechnik studierte und sich an mehreren Pop-Art-Ausstellungen beteiligte, aber auch ihr erstes Drehbuch entstand mit "Die mongolische Doppelschublade" in dieser Zeit" (1966).


Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland 1969 gründete sie in Konstanz einen Filmclub und eine Galerie, 1972 drehte sie mit dem 50-minütigen "Laocoon & Söhne" ihren ersten Film. Eines ihrer zentralen Themen hat Ottinger dabei mit der Geschichte der Verwandlungen einer Frau schon gefunden, gleichzeitig erzählte sie aber auch von der Verwandlung der Bilder und ihrer Wahrnehmungsweisen.


Die Hauptrolle spielte Tabea Blumenschein, die auch die folgenden Filme "Madame X – Eine absolute Herrscherin“ (1978), "Bildnis einer Trinkerin" (1979) und "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984) prägte. Die Lust an der Verwandlung verband Blumenschein mit Ottinger. Als geheimnisvolle Piratenkönigin, die den Frauen, die ihr folgen, Gold, Liebe und Abenteuer verspricht und sie zur Selbstbestimmung führt, überzeugte sie in Ottingers erstem Langfilm "Madame X" (1978) ebenso wie als elegante Trinkerin, die sich in Berlin dem Alkohol hingeben will und dabei eine obdachlose Alkoholikerin kennenlernt.


Um Macht und Medien geht es dagegen in "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" (1984), in dem die Chefin eines Medienkonzerns einen Dandy aufbaut, der sich schließlich gegen seine Schöpferin erhebt. Wie diese Filme bestimmen fantastische Bilderfindungen, Lust am Experiment und an kunstvollen Dekors auch "Freak Orlando" (1981), bei dem Ottinger schon im Titel Todd Brownings Klassiker "Freaks" und Virginia Woolfs Roman "Orlando" verbindet.


Nicht von der Narration, sondern von der assoziativen Abfolge von teils surrealen, teils realistischen Bildern leben ihre Spielfilme. Inhaltlich geht es immer wieder um Gender-Transgressionen und die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen. Queerness kennzeichnete ihre Filme, ehe dieser Begriff Verbreitung fand, aber gleichzeitig fügen sich "Bildnis einer Trinkerin", "Freak Orlando" und "Dorian Gray" zu einer Berlin-Trilogie, die abseits der Touristenpfade in die geteilte Stadt der frühen 1980er Jahre eintauchen lässt.


Während sie in "Freak Orlando" ein "kleines Welttheater von den Anfängen bis heute" bot, in dem sie einen Freak in fünf Episoden durch die Weltgeschichte von der Antike bis zur Nazi-Zeit reisen ließ, brach sie selbst nach "Dorian Gray" nach China auf. Ihr Interesse für Asien habe bei ihr schon mit neun Jahren begonnen, als sie bei einem Bekannten eine mongolische Truhe entdeckte. Mit der 270-minütigen Reisebeschreibung "China – der Alltag – die Künste" (1985) tauchte sie nun erstmals in diese Welt ein und wandte sich damit auch vom Spielfilm ab und dem Dokumentarfilm zu.


An die Stelle der Exotik und der Minderheiten in ihrem eigenen Kulturkreis trat nun das Interesse für die reale Exotik in einem fernen Land. Mit der Neugier einer Ethnographin erkundete sie im achtstündigen "Taiga" (1992) die Welt der Yak- und Rentiernomaden in der nördlichen Mongolei oder in "Die koreanische Hochzeitstruhe" (2008) alte Hochzeitsriten, während sie in "Johanna d´Arc of Mongolia" (1989), in dem eine Gruppe schillernder Europäerinnen mit der Transsibirischen Eisenbahn reist, Dokumentarisches mit Fiktivem mischte. Nicht nur die unterschiedlichen Zuggäste ließ Ottinger dabei aufeinandertreffen, sondern führte diese bald auch aus der Enge des Zugs in die Weite der mongolischen Steppe, wo diese unter Führung einer geheimnisvollen mongolischen Prinzessin in die fremde Kultur eintauchten.


Auch in "Unter Schnee" (2011) lässt Ottinger die Zuschauer*innen mit dem Zug in die nordjapanische Provinz Echigo reisen, die ein halbes Jahr unter einer meterhohen Schneedecke liegt. Die dokumentarische Ebene wird dabei verbunden mit dem Reisebericht eines Kaufmanns, der im 19. Jahrhundert Echigo bereiste.


Keinen nüchternen Reisebericht will Ottinger liefern, sondern verbindet Märchenhaftes und ethnographische Schilderung des Alltags zu einem ruhigen, aber bildstarken Filmgedicht, das nicht nur Gegenwart und Vergangenheit, Kabuki-Theater und Wirklichkeit mit leichter Hand vermischt, sondern auch ein dichtes Netz an Geschichten entfaltet.


Noch einmal zu ihren künstlerischen Wurzeln im Paris der 1960er Jahre kehrte die vielseitige Künstlerin mit ihrem bislang letzten Film "Paris Calligrammes" (2020) zurück. Mit Archivmaterial, Interviewpassagen und Filmausschnitten zeichnet sie darin nicht nur ein großes Porträt dieser Zeit des Umbruchs, sondern auch ein starkes Selbstporträt.


Spieldaten und weitere Informationen finden Sie auf der Homepage des Österreichischen Filmmuseums.


Trailer zu "Paris Calligrammes"


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