Hans Steinbichler hat mit spürbarer Leidenschaft und bildgewaltig Robert Seethalers Roman über ein fast das ganze 20. Jahrhundert umspannendes Leben in einem abgelegenen Tiroler Tal verfilmt: Unsentimentales, kraftvolles und bewegendes Kino, an dem nur der allzu exzessive Musikeinsatz stört.
In den letzten Jahren hat das Kino wieder die Bergwelt als Lebens- oder Rückzugsraum entdeckt. Nach Adrian Goigingers Felix Mitterer-Verfilmung "Märzengrund", Michael Kochs "Drii Winter" und Felix van Groeningens und Charlotte Vandermeerschs "Acht Berge" folgt nun Hans Steinbichlers Verfilmung von Robert Seethalers 2014 veröffentlichtem Bestseller "Ein ganzes Leben".
Schon in der Widmung an seinen Vater, der ihm die Berge nahe gebracht habe, wird Steinbichlers Nähe und Vertrautheit mit der (Tiroler) Bergwelt sichtbar und dieses Gespür für den Raum trägt auch wesentlich zum Gelingen des Films bei. Keine sterilen Postkartenbilder schaffen Steinbichler und sein Kameramann Armin Franzen hier, sondern sie verstehen es diese Landschaftstotalen mit Emotionen und Kraft aufzuladen.
Dies setzt schon mit der ersten Szene ein, wenn der etwa achtjährige Andreas Egger (Ivan Gustafik) nach dem Tod seiner Mutter Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Kutsche in ein abgelegen in einem Tiroler Tal gelegenes Bergdorf zu seinem Onkel (Andreas Lust) gebracht wird. Dieser bringt gegenüber dem Jungen keine Empathie auf und sieht in ihm nur eine billige Hilfskraft. Getrennt von der Familie muss er beim Essen in einer Ecke sitzen und bei jedem geringsten Fehler wird er von seinem Ziehvater so brutal geschlagen, dass er davon eine lebenslange Gehbehinderung davontragen wird.
Aus dieser Abhängigkeit wird sich Andreas, der Fürsorge und Zuneigung nur von der Mutter des Bauern (Marianne Sägebrecht) erfährt, zwar als junger Erwachsener (Stefan Gorski) befreien, doch nur ein kurzes Liebesglück wird ihm beschert sein. Lebenslang wird er aber immer wieder an diese Marie (Julia Franz Richter) denken. Arbeit wird er beim Seilbahnbau finden und wie zuvor beim Holzfällen an den steilen Hängen schildern Steinbichler und Franzen auch hier die Arbeit in kraftvoll-wuchtigen Bildern, die sich am klassischen Hollywood-Kino zu orientieren scheinen. Fast physisch werden dabei die Anstrengung, aber auch der Schmerz beim Gehen mit der schweren Beinverletzung oder bei Schicksalsschlägen wie einem Lawinenunglück spürbar.
Weitere Schicksalsschläge werden mit dem Tod von Bekannten folgen, ehe Andreas nach der berüchtigten Sportpalastrede Joseph Goebbels vom NS-Regime einberufen und im Kaukasus eingesetzt wird.
Nur bei diesem Kriegseinsatz verlässt der Film das Bergdorf. Gleichförmig verläuft dort das Leben, während die Radioübertragung der Sportpalastrede oder später die TV-Übertragung der ersten Mondlandung von weltpolitischen Ereignissen künden. Prägnant wird ein Bild von der übermächtigen Stellung der Religion und Gottes in dieser Bauernwelt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gezeichnet, während später mit der Seilbahn und dem sukzessiven Ausbau zum Skigebiet zunehmend der Tourismus Einzug hält. Seltsam deplatziert wird dabei Andreas gegen Ende in einem neuen Supermarkt stehen, denn sein wortkarges und zurückgezogenes Leben scheint von den gesellschaftlichen Veränderungen nahezu unberührt.
Nichts Großes wird dieser Andreas vollbringen oder erleben. Er bleibt über all die Jahre mehr ein Zuschauer, wird kaum zum Akteur, sondern lässt sein Handeln weitgehend von seiner Umgebung bestimmen. Doch durch die runde und stimmige Erzählweise, die starken Bilder und die bis in die Nebenrollen perfekt ausgewählten und authentischen Schauspieler:innen bewegt dieses einfache Leben.
Kein Bruch gibt es in der Erzählung, elegant lässt Steinbichler bei mehreren Zeitsprüngen seinen Protagonisten immer wieder mit einem Schnitt altern. Im genau getakteten ruhigen Erzählrhythmus entwickelt "Ein ganzes Leben" dabei einen großen Atem, der mitreißt und feiert nicht nur die majestätische Natur, die hier ein Hauptdarsteller ist, sondern auch das Leben an sich.
Denn trotz der schmerzhaften Erfahrungen, die Andreas von Kindheit an immer wieder macht, durchzieht diesen in lichtdurchflutete und helle, aber kitschfreie Bilder getauchten Film eine optimistische Stimmung. Gipfeln wird diese in der Lebensbilanz von Andreas, der im Alter in kurzen Schnipseln sein ganzes Leben nochmals Revue passieren lässt und resümierend feststellt, dass die Erinnerung an seine Existenz bei ihm pures Glück auslöse.
Störend ist an diesem bewegenden Heimatfilm, der im Hintergrund unaufdringlich auch ein realistisch-ungeschöntes Bild vom Wandel eines Tiroler Bergdorfs im 20. Jahrhundert zeichnet, einzig die exzessive Untermalung der so starken Bilder mit einem nahezu durchgängigen, alles andere als kitschfreien Musikteppich.
Ein ganzes Leben Österreich / Deutschlan 2023 Regie: Hans Steinbichler mit: Stefan Gorski, August Zirner, Julia Franz Richter, Andreas Lust, Robert Stadlober, Marianne Sägebrecht, Thomas Schubert, Lukas Walcher, Ivan Gustafik Länge: 116 min.
Läuft derzeit in den Kinos, z.B. im Cinema Dornbirn und Kinok St. Gallen.
Trailer zu "Ein ganzes Leben"
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