Luis Buñuels surrealistische Gesellschaftssatire um sechs Angehörige der Oberschicht, deren Pläne zu einem Essen zusammenzukommen, immer wieder scheitern, ist bei Studiocanal in 4K-Restaurierung mit spannendem Bonusmaterial auf DVD und Blu-ray erschienen.
Ende der 1920er Jahre wurde Luis Buñuel mit "Un chien andalou" und "L´âge d´or" zum Bürgerschreck. Gut 40 Jahre später (1972) zieht der Spanier immer noch bissig über Kirche, Militär und Bourgeoisie her, doch sein Ton ist zumindest nach außen hin sanfter geworden. Statt Schock verbreitet seine surrealistische Satire leichtes Vergnügen mit Biss: Das Ergebnis und der Lohn waren ein Publikumserfolg und 1973 der Gewinn des Oscars für den besten fremdsprachigen Film.
Ein Großbürger (Paul Frankeur), seine Frau (Delphine Seyrig) und deren Schwester (Bulle Ogier) sowie der Botschafter des fiktiven lateinamerikanischen Staats Miranda (Fernando Rey) fahren mit einer schwarzen Limousine zum Landhaus eines befreundeten Paars. Sie glauben dort zum Essen eingeladen zu sein, erfahren von der sie im Nachthemd empfangenden Hausherrin aber, dass das Essen erst für den nächsten Tag geplant gewesen sei, ihr Mann ausgegangen sei.
Diese Ausgangssituation wiederholt Luis Buñuel in den folgenden 100 Minuten immer wieder, baut sie aus, variiert sie: Immer wieder fahren die Protagonist*innen mit der Limousine irgendwo hin, immer wieder wird eine Tür geöffnet, immer wieder setzt man sich zum Essen, doch dieses findet dann nie statt. Mal stört ein im Nebenraum aufgebahrter Toter die Essensfreude, mal sind die Gastgeber abwesend, weil sie sich lieber dem Liebesspiel widmen, mal stört ein Trupp von Soldaten, mal Terroristen die Runde.
So geht es ums Ritual der bürgerlichen Einladungen, um kulinarische, aber auch sexuelle Lust und immer wieder baut Buñuel Spitzen gegen die bürgerliche Gesellschaft ein. Da wird der Chauffeur wegen Unkenntnis von Trinksitten gedemütigt, ein Bischof will als Gärtner arbeiten, wird rausgeworfen als er in Gärtnerkleidung erscheint, aber unterwürfig empfangen, wenn er seine Robe trägt, und die eine Ehefrau betrügt ihren Ehemann vor dessen Augen mit dem Botschafter von Miranda.
Spitzen gegen die Kirche gibt es, wenn der Bischof einem Todkranken zunächst die Beichte abnimmt, ihn dann aber wegen persönlicher Rache mit einer Schrotflinte erschießt. Lateinamerikanische Diktaturen bekommen ebenso ihr Fett ab wie der uninformierte, eurozentrische Blick des Großbürgertums auf Lateinamerika sowie Politiker, die die Freilassung von Verbrechern verlangt, wenn es sich um angesehene Bürger handelt.
Was dabei freilich real ist und was Traum, bleibt ziemlich offen, denn mehrfach entpuppen sich Szenen im Nachhinein als Traum eines der Protagonisten. Nur zwei Träume von Soldaten sind im Vorhinein als Traum ausgewiesen, wenn die Figuren explizit erklären, dass sie einen Traum erzählen werden. Auffallend ist dabei, dass ausschließlich Männer träumen: Soll das auf das Patriarchat hinweisen, auf die Dominanz der Männer, die auch die Erzählung bestimmen?
Und zwischen die Nicht-Essenszenen eingeschnitten sieht man mehrfach die sechs Protagonist*innen auf einer Landstraße durch Felder spazieren. Mit diesem Bild beschließt Buñuel auch den Film und lässt dessen Bedeutung offen: Die Bourgeoisie auf dem Weg ins Nirgendwo oder Sinnbild für einen Lebensweg ins Ungewisse?
Doch nicht nur mit dem Bürgertum rechnet der 1983 verstorbene Meisterregisseur ab, sondern zertrümmert auch die Erzählmuster des Kinos. Denn kaum eine echte Handlung entwickelt er, reiht vielmehr sich in Variation wiederholende Szenen aneinander. Dennoch ist dies kein schwerer Kunstfilm, sondern eine bestens unterhaltende Gesellschaftssatire, die auch 50 Jahre nach ihrer Uraufführung kein bisschen Staub angesetzt hat.
An Sprachversionen bieten die bei Studiocanal erschienene DVD und Blu-ray die französische Original- sowie die deutsche und die englische Synchronfassung. An Untertiteln werden neben deutschen und englischen Untertiteln auch französische Untertitel für Hörgeschädigte angeboten. An Extras gibt es neben zwei Trailern und einer Bildergalerie mehrere jeweils deutsch untertitelte Features.
Der Buñuel Biograph Peter William Evans geht so in seiner 35-minütigen kritischen Analyse auf die Nachwirkung Buñuels ebenso ein wie auf die Rolle des Surrealismus, des sozialen Gewissens und der Traumsequenzen sowie die Entstehung des Drehbuchs von "Der diskrete Charme der Bourgeoisie". Der französische Filmhistoriker und Filmkritiker Charles Tesson analysiert dagegen drei der Essensszenen genau und analysiert auch in 30 Minuten den Film insgesamt. Spannende Einblicke zur Entstehung des Films und der Beziehung zum Produzenten Serge Silberman bietet auch ein 20-minütiges Interview mit dem Drehbuchautor Jean-Claude Carrière.
Trailer zu "Der diskrete Charme der Bourgeoisie"
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