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  • AutorenbildWalter Gasperi

Das unbesiegbare argentinische Volk: Nachruf auf Fernando Solanas


Fernando Solanas (1936 - 2020)

Die Bandbreite des Werks von Fernando Solanas, der am 6. November im Alter von 84 Jahren in Paris an den Folgen von COVID-19 gestorben ist, reicht von zornigen Dokumentarfilmen bis zu melancholischen Reflexionen. Gemeinsam ist allen Filmen die leidenschaftliche Parteinahme für das ausgebeutete argentinische Volk.


Mit seinen späten Dokumentarfilmen „Memoria del saqueo“ (2004) und „La dignidad de los nadies“ (2005) kehrte der 1936 geborene Fernando Solanas zu seinen filmischen Anfängen zurück. Aufsehen erregte der Argentinier 1968 mit seinem vierstündigen zornigen Pamphlet „La hora de los hornos“, in dem er den Neokolonialismus anprangerte und zu Widerstand und Revolution aufrief. Durch den Einsatz der Montage-Techniken des sowjetischen Revolutionsfilms und Inserts mit appellativem Inhalt entwickelte dieses agitatorische Debüt mitreißende Kraft.


Von seiner Leidenschaft für die Armen und Entrechteten und seiner Wut auf die politisch und wirtschaftlich Mächtigen hatte diese Ikone des lateinamerikanischen Kinos auch im Alter von 70 Jahren nichts verloren. Ausgehend vom Rücktritt Präsident Fernando de la Ruas rollt der Sozialist Solanas die letzten 20 Jahre der argentinischen Geschichte auf.


Eindrucksvoll und schmerzhaft arbeitet er in zehn Kapiteln heraus, wie Neoliberalismus und Globalisierung das einst reiche Land verarmen ließen. „Mafiokratie“ und „sozialer Genozid“ lauten die scharfen Vorwürfe und der Arroganz der stets lächelnden Wirtschaftsbosse und Politiker wird die Not des Volkes gegenüber gestellt.


Auf diese mit Zahlen und Fakten überladene zornige Abrechnung mit den neoliberalen Strukturen ließ Solanas mit „La dignidad de los nadies“ eine Bestandsaufnahme aus der Perspektive der Ärmsten – oder genauer der „Niemande“ - folgen. Nur knapp wird die politische Situation im Jahr 2002 skizziert, dann richtet sich der Blick auf das einfache Volk.


Mit der Digitalkamera begleitet der Argentinier die demonstrierenden Arbeitslosen durch Buenos Aires und dokumentiert die Solidarität der Arbeits- und Besitzlosen, die am Stadtrand Volksküchen einrichten. Hautnah ist die Kamera dabei, perfekte Kadrierung und Ausleuchtung sind nicht wichtig. Menschen und Situationen sollen möglichst authentisch eingefangen werden.


Plastisch werden so die katastrophale Situation am Arbeitsmarkt und der desolate Zustand des Sozial- und Bildungswesens aufgezeigt. Doch trotz der großen Not verbreitet „La dignidad de los nadies“ Hoffnung. Denn Solanas´ Glaube an die Widerstandskraft und den Überlebenswillen des Volkes ist unerschütterlich und überall findet er Beispiele dafür: Frauen setzen sich mit Bauernschläue gegen Zwangsversteigerungen ihres Hofs zur Wehr und Arbeitslose nehmen in Eigenregie die Produktion in aufgelassenen Fabriken wieder auf.

Indem Solanas bewegende Porträts dieser trotzigen Kämpfer zeichnet und ihre kleinen Erfolge feiert, wird sein Dokumentarfilm zumindest für das argentinische Volk über die Zustandsbeschreibung hinaus zum Mutmacher, der zur Nachahmung auffordert.


Da Unterdrückung und Ausbeutung aber nicht nur auf wirtschaftlicher und politischer Ebene erfolgen, sondern auch auf kultureller, hat Solanas schon in den 60er Jahren zusammen mit seinem Weggefährten Octavio Getano ein Manifest für „Ein Kino der Dekolonisation“ verfasst. In seinen Spielfilmen setzte er den Hollywood-Standards ein poetisches Kino entgegen. Die Erfahrung des Pariser Exils, in dem er während der Militärdiktatur Videlas (1976 – 1983) lebte, verarbeitete er in dem stilisierten „Tangos – el exilio de Gardel“ (1985).


Das Ende der Diktatur bildet den Hintergrund des ganz in Blau getauchten Filmgedichts „Sur“ (1986). Ausgehend von der Rückkehr eines Haftentlassenen zu seiner Frau entwickelt Solanas unterstützt von der wehmütiger Musik Astor Piazzollas in grandiosen Tableaux, in denen Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen, eine melancholische Reflexion über das Begehren und die Sehnsucht.


Grandiose surreale gesellschaftskritische Momente fehlen in diesem Meisterwerk ebenso wenig wie in dem im Kolumbus-Jahr 1992 gedrehten Roadmovie „El viaje“. Der Blick jedoch weitet sich in dieser Odyssee, die in ihrer Fabulierfreude an die Romane von Gabriel Garcia Marquez erinnert, auf ganz Lateinamerika: Überall findet Solanas Ausbeutung und Unterentwicklung, feiert aber gleichzeitig die Vielfalt und Schönheit der Kulturen und der Landschaft. – Mit seinem Tod am 6. November verstummt eine große Stimme des lateinamerikanischen Kinos, seine Filme aber leben weiter und sieben davon sind bei Trigon-Film auf DVD erschienen.


Trailer zu "Memoria del saqueo"



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