Von der Erstklässlerin in Laura Wandels "Un monde – Playground" bis zum Teenager im abgelegenen Dorf im Kosovo in Norika Sefas "Looking for Venera" fokussierten auffallende viele Filme im Spielfilm-Wettbewerb des 19. Crossing Europe filmfestival linz auf Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Der Hauptpreis ging aber an den polnischen Film "Cicha Ziemia - Silent Land".
Angesichts der Fülle der Filme muss bei einem Filmfestival bei der Sichtung immer eine Auswahl getroffen werden. Legte man heuer beim Crossing Europe filmfestival linz den Schwerpunkt auf den Spielfilmwettbewerb so fiel die starke Dominanz von jugendlichen Protagonisten und vor allem von Protagonistinnen auf. Erklären lässt sich das wiederum aus der relativen Jugend der Regisseur*innen, die in Linz ihre ersten oder zweiten langen Spielfilme präsentieren.
Beklemmenden Einblick in die Erfahrungen einer Erstklässlerin auf einem Schulhof bot so Laura Wandel in dem hier schon ausführlich vorgestellten inhaltlich und formal kompromisslosen "Un monde – Playground", der mit dem Publikumspreis ausgezeichnet wurde. Von einer sozial verwahrlosten und gewalttätigen isländischen Jugend erzählt dagegen Gudmundur Arnar Gudmundsson im ebenfalls hier schon vorgestellten "Berdreymi – Beautiful Beings".
In gleichem Alter wie die 14-jährigen Protagonisten Gudmundssons ist auch die Kosovarin Venera in Norika Sefas "Looking for Venera". Mit quasidokumentarischem Blick zeichnet die Debütantin das Bild eines materiell armen und gesellschaftlich rückständigen Dorfes, in dem die Frauen nichts zu sagen haben. Langsam beginnt aber Venera unter dem Einfluss ihrer unbekümmerten Freundin Dorina, die aufgrund des Fehlens des im Krieg gefallenen Vaters mehr Freiheiten hat, um Selbstbestimmung zu kämpfen.
Sefa erzeugt nicht nur mit kaltem Licht und schmutzigen Farben eine bedrückende Atmosphäre, sondern macht auch die beklemmende Enge und das Fehlen jedes Freiraums mit nah geführter Kamera, die kaum einmal einen Überblick gewährt, fast physisch erfahrbar. In langen Einstellungen bietet sie Einblick in die Herrschaft der Männer und die Ohnmacht der Frauen, die in einer Bar kein Getränk selbst bestellen dürfen und die Erlaubnis zu einem Partybesuch ihrem Vater mühsam abringen müssen. Gleichzeitig deutet Sefa mit Venera aber auch eine Wende und einen Aufbruch an, wenn diese sich nicht wie ihre Mutter in die ihr zugedachte Rolle fügen, sondern selbst über ihr Leben bestimmen will.
14 Jahre alt ist auch die Protagonistin von Tea Lindeburgs Debüt "As in Heaven". Die Dänin versetzt in ihrer Adaption von Marie Bregendahls 1912 erschienenem Roman "Eine Todesnacht" die Zuschauer*innen auf einen dänischen Hof in den 1880er Jahren. Auf Wunsch der Mutter soll Lise als älteste Tochter der kinderreichen Familie auf ein Internat gehen, auch wenn der Vater nichts davon hält.
Mit dem Erwachen Lises beginnt der Film und wird nur einen Tag später enden, doch alle Lebenspläne werden an diesem einen Tag über den Haufen geworfen, als Lises Mutter bei der Geburt ihres Kindes stirbt und die 14-Jährige die Rolle der Frau im Haus übernehmen muss.
Konventionell ist das erzählt, entwickelt aber durch die Konzentration auf einen Tag und den Hof als einzigen Schauplatz sowie ein kontrolliertes Erzähltempo und bestechend ausgeleuchtete Bilder, die teils an Gemälde erinnern, große Dichte. Dem mit Kreuz, Bibel, und "Vater unser"-Aufschrift nahezu omnipräsenten Glauben stellt Lindeburg dabei nicht nur ein aufgeklärteres Denken Lises gegenüber, sondern auch ihrem kindlichen Spiel mit den Geschwistern, dessen Leichtigkeit und Unbekümmertheit mit bewegter Handkamera beschworen wird, ein sexuelles Erwachen, wenn der Teenager sich vor dem Spiegel betrachtet oder sich einem etwas älteren Knecht nähert.
Wenn dabei Lises aktives Treiben mit den Geschwistern mit den Wehen der Mutter zunehmend von einer passiven Zuschauerrolle abgelöst wird, korrespondiert damit auch der Übergang von Kindheit zu Erwachsenenalter, in der Lise schließlich ihre Rolle erfüllen muss.
In der Gegenwart des 21. Jahrhunderts der Monotonie des Landlebens entkommen will dagegen die junge Christin in Sabrina Sarabis hier schon vorgestelltem "Niemand ist bei den Kälbern". Städter durch und durch sind dagegen die fünf Jugendfreunde in Ivan Bakracs "After the Winter", deren Wege sich zwar getrennt haben, die aber immer noch per Handy in Kontakt sind und sich nun besuchen.
In drei Episoden erzählt Bakrac von diesen jungen Erwachsenen, die noch nicht genau wissen, wie es in ihrem Leben weitergehen soll. Treffende Porträts dieser Nachkriegsgeneration werden gezeichnet, im entspannten Erzählrhythmus wird auch stimmig ihre Unentschlossenheit vermittelt, allerdings entwickelt dieses Debüt kaum dramatische Kraft und lässt damit einen etwas faden Eindruck zurück.
Raum bietet das Crossing Europe aber immer auch für höchst eigenwillige, sperrige Erzählweisen. Ein Beispiel dafür war heuer Jaqueline Lentzous "Moon, 66 Questions". Stark fragmentiert erzählt die Debütantin darin von einer jungen Frau, die nach Jahren der Abwesenheit in ihre griechische Heimat zurückkehrt, um sich um ihren an Multiple Sklerose leidenden Vater zu kümmern.
Bruchlos reiht Lentzou quasidokumentarische Schilderung der mühsamen Gehversuche des Vaters, vor Jahren gedrehte Homevideos des Vaters oder Bemühungen der Verwandtschaft einen Pfleger zu finden aneinander. – Unmöglich scheint es hier nach erster Sichtung die Einzelteile zu einem schlüssigen Gesamtbild zu fügen, aber in seinem Mut konventionelle Erzählweisen hinter sich zu lassen und in der Intensität einzelner Szenen bleibt "Moon, 66 Questions", bei dem auch der Titel ein Rätsel bleibt, doch haften.
Entspannung von solchen fordernden, ästhetisch avancierten Filmen bietet in Linz alljährlich die Nachtsicht. Kinovergnügen im Stil von Quentin Tarantinos "Inglourious Basterds" bot so Gabriele Mainettis "Freaks Out", in dem vier Zirkuskünstler mit speziellen Fähigkeiten wie magnetischer Kraft, elektrischer Kraft oder Steuerung von Insekten durch Willenskraft im Italien des Zweiten Weltkriegs in den Kampf gegen die Nazis verwickelt werden. Während ein deutscher Zirkusdirektor, die vier Freunde als Superwaffe für die Nazis gewinnen will, versuchen sie selbst ihren jüdischen Freund vor der Deportation zu bewahren und geraten dabei auch unter Partisanen.
Ein wilder Mix aus Superheldenkino und Kriegsfilm ist das, der dem Grauen des Kriegs immer wieder die Magie des Zirkus und die Kraft der Freundschaft gegenüberstellt. Um historische Korrektheit schert sich Mainetti dabei keinen Deut und schreckt auch vor Klamauk nicht zurück. – Lässt man sich aber darauf ein, wird zwar inhaltlich überladenes, aber saftiges und unterhaltsames Kino geboten, auch wenn der finale Showdown viel zu lang und unübersichtlich ist.
Eine Aufstellung aller Preisträger*innen finden Sie hier.
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