Nach der Corona-bedingten Pause 2020 und aufgrund der Pandemie gut einen Monat später als gewohnt findet vom 1. bis 6. Juni die 18. Ausgabe des Linzer Filmfestivals als physisches Event statt. Mit 123 handverlesenen Spiel- und Dokumentarfilmen aus 40 Ländern wird wieder ein breiter Einblick in die Vielfalt und Vitalität des jungen europäischen Kinos geboten.
Wie gewohnt startet das Linzer Filmfestival nicht mit einem Eröffnungsfilm, sondern stellt zum Auftakt mit fünf Werken die unterschiedlichen Programmsektionen vor. Neben Maria Schraders "Ich bin dein Mensch" und dem Dokumentarfilm "The Wire", der die Schengengrenze in Europa thematisiert, wird mit "Mandibules" von Quentin Dupieux, dem Großmeister des absurden Kinos, die Schiene Nachtsicht gestartet. Der Ivan Ostrochovsky gewidmet Tribute wird mit dessen Spielfilm "Sluzobnici - Servants" eröffnet, während in der Reihe "Local Artists" mit der Weltpremiere von "Surviving Gusen" ein Dokumentarfilm über drei Überlebende des nahe bei Linz gelegenen NS-Vernichtungslager Gusen auf dem Programm steht.
Im Competition Fiction konkurrieren zehn Spielfilme um den mit 5000 Euro dotierten Crossing Europe Award sowie den ebenfalls mit 5000 Euro dotierten Crossing Europe Audience Award. Hier fehlt auch mit "Dasatskisi – Beginning" der Georgierin Dea Kulumbegashwili ein im letzten Jahr international gefeiertes und vielfach ausgezeichnetes Debüt nicht. Wird hier von einer folgsamen Zeugin Jehova erzählt, deren Welt unverhofft auf bruatale Weise zerbricht, so thematisiert der Schwede Magnus von Horn in der polnischen Produktion "Sweat" anhand der Geschichte einer Fitfluencerin packend Schein und Sein in der Welt der sozialen Medien.
Azra Deniz Okyay fokussiert dagegen in "Hayaletler – Ghosts" auf vier Bewohnern Istanbuls, deren Wege sich während eines Stromausfalls in der türkischen Metropole immer wieder kreuzen. Ans andere Ende Europas entführt der Spanier Guillermo Benet, in dessen "Los Inocentes" eine Partynacht in einem besetzten Haus jäh durch einen Polizeieisatz unterbrochen wird.
Topaktuell klingt "Apples", in dem der Grieche Christos Nikou von einer rätselhaften Pandemie erzählt, die die Menschen die Erinnerung verlieren lässt. Ebenfalls aus Griechenland kommt Janis Rafas "Kala Azar", in dessen Mittelpunkt ein junges Paar steht, das Tierkadaver einsammelt.
Eine geradezu klassische Liebesgeschichte erzählt wiederum Louda Ben Salah-Cazanas in dem in Paris spielenden "Le monde après nous", während in Siamak Etemadis "Pari" ein iranisches Ehepaar, das in Athen seinen Sohn besuchen will, feststellen muss, dass dieser verschwunden ist.
Elf Filme laufen im Competition Documentary, in dem der ebenfalls mit 5000 Euro dotierte Crossing Europe Social Awareness Award vergeben wird. Aliaksei Paluyan dokumentier in "Courage" die Proteste in Weissrussland gegen die diktatorische Regierung Alexander Lukaschenkos, während Radu Ciorniciuc in "Acasa, My Home" eine elfköpfige rumänische Familie porträtiert, die aufgrund der Errichtung eines Naturparks umgesiedelt wird. Volkan Üce blickt dagegen in "All-in" am Beispiel von zwei jungen Türken, die in einem All-Inclusive-Resort an der Türkischen Riviera arbeiten, auf das Spannungsfeld von Urlaubsfeeling und Arbeitswelt.
Der Österreicher Hans Hochstöger arbeitet in "Endphase" den Mord an 228 ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in der niederösterreichischen Gemeinde Hofamt Priel auf, während Alina Gorlova in "The Rain Will Never Stop" am Beispiel einer aus Syrien geflohenen kurdischen Familie, die in unterschiedlichen europäischen Ländern lebt, Einblick in die Unsicherheiten und Schmerzen dieser vom Krieg gebeutelten Menschen bietet.
Preisgekrönte Highlights der letzten Festivalsaison kann man im European Panorama entdecken. Visar Morinas Psychothriller "Exil", der schon im letzten August in den österreichischen Kinos anlief, findet sich in dieser Programmschiene ebenso wie Andrea Stakas preisgekröntes Frauenporträt "Mare".
Mit Peter Mackie Burns "Rialto" gibt es hier auch ein Drama um die geheime sexuelle Beziehung zwischen einem Dubliner Familienvater und einem kleinkriminellen Stricher sowie wie mit Alice Winocours "Proxima: Die Astronautin" die Schilderung der Beziehung einer Astronautin, die zu einer Weltraum-Mission aufbrechen soll, zu ihrer siebenjährigen Tochter. Ein auf Tatsachen beruhender Politthriller fehlt hier mit Carlos Marques-Marcets "La mort de Guillem" ebenso wenig wie mit David Bonnevilles "O último banho" die Geschichte einer Nonne, die sich nach einem Todesfall um ihren 15-jährigen Neffen kümmern muss.
In der Sektion European Panorama Documentary laufen unter anderem "Paris Calligrames", in dem Ulrike Ottinger ihre jungen Jahre im Paris der 1960er Jahre aufarbeitet, oder "Nemesis", in dem Thomas Imbach über sieben Jahre den Abbruch des Zürcher Güterbahnhofs und den Neubau eines Polizei- und Justizzentrums mit der Kamera begleitet.
Entdecken kann man hier aber auch neue Arbeiten des tschechischen Crossing Europe Stammgastes Helena Třeštíková, die in "Anny" von 1996 bis 2012 einer Pragerin folgte, die sich wechselweise als Toilettenfrau und Prostituierte durchs Leben schlägt, oder die Oscar nominierte rumänische Produktion "Colectiv", in der Alexander Nanau einer Gruppe Journalist*innen folgt, die nach einem Brand in einem Bukarester Club die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen und die desaströsen Zustände im Krankenhauswesen aufdeckte.
Gespannt sein darf man auch auf Vitali Manskys Porträt Michail Gorbatschovs in "Gorbachev. Heaven" und vor allem auf "Hinter den Schlagzeilen", für den Daniel Sager die beiden investigativen Süddeutsche Zeitung-Reporter Frederik Obermaier und Bastian Obermayer bei ihren Recherchen zur "Ibiza Affäre" begleitete und einen Blick hinter die Kulissen der renommierten Münchner Tageszeitung wirft.
Die Jugendschiene YAAS widmet sich einerseits der Filmvermittlung, präsentiert aber auch sechs Spielfilme, wie "Gagarine", in dem Fanny Llatard und Jérémy Troulth vom Leben einer multikulturellen Community in einem baufälligen Pariser Wohnblock erzählt, oder "Slalom", in dem Charlène Favier auf das harte Training einer 15-jährigen Skirennläuferin fokussiert.
Dazu kommen die bewährten Schienen "Arbeitswelten", die in vier Filmen aktuelle Arbeitsverhältnisse beleuchtet, und "Nachtsicht", die mit Fokus auf dem Fantastischen Film Einblick ins europäische Genrekino bietet. Nicht fehlen darf der Tribute, der heuer dem Slovaken Ivan Ostrochovsky gewidmet ist, sowie die "Local Artists", in der das lokale Filmschaffen ins Zentrum gerückt wird.
Diese 18. Ausgabe bringt aber auch einen Abschied, denn Festivalleiterin Christine Dollhofer, die 2003 Crossing Europe zusammen mit dem Linzer Kinobetreiber Wolfgang Steininger gegründet hat, wird im November die Leitung des Filmfonds Wien übernehmen. Gespannt sein darf man somit, wer hier im Herbst als Dollhofers Nachfolger*in bekannt gegeben wird.
Weitere Berichte zu Crossing Europe 2021:
Trailer zum "Crossing Europe 2021"
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