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  • AutorenbildWalter Gasperi

Beanpole - Bohnenstange ("Dylda")


Der Zweite Weltkrieg ist vorüber, doch die Traumata bleiben. – Kantemir Balagow erzählt davon in seinem meisterhaft inszenierten, ebenso spröden wie beklemmenden Drama anhand des Schicksals zweier Leningrader Frauen.


Der zweite Spielfilm von Kantemir Balagow, der sich vom Dokumentarroman "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht" der weißrussischen Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch inspirieren ließ, spielt in Leningrad im Herbst 1945/46. Nicht nur die 28-monatige Belagerung der Großstadt durch die deutschen Truppen, während der rund 1,1 Millionen Bewohner*innen starben, ist vorüber, sondern auch der Zweite Weltkrieg insgesamt. Doch schon die Dominanz von Braun- und Grüntönen, die karg ausgestatteten Räume, die Erwähnung von begrenzten Lebensmittelrationen und Hunger und die beengten Wohnverhältnisse erzeugen eine bedrückende Stimmung.


Nur einen surrenden Ton hört man in der ersten Szene. Die Welt scheint seltsam entrückt, wenn die Kamera von Ksenija Sereda in Großaufnahme Iya (Viktoria Miroshnichenko) erfasst. Wie in Trance erstarrt wirkt sie, und die umstehenden Frauen, die mit diesen Anfällen Iyas offensichtlich vertraut sind, müssen sie durch direkte Ansprache in die Welt zurückrufen.


Nur ein Beispiel für die vielfältigen Nachwirkungen der Kriegserfahrungen ist diese posttraumatische Belastungsstörung Iyas, die alle Beanpole (Bohnenstange) nennen, weil sie Männer wie Frauen um rund zwei Köpfe überragt. Im Krankenhaus, in dem sie als Pflegerin arbeitet, wird sie tagtäglich mit den Folgen des Krieges konfrontiert. Zu körperlichen Verwundungen kommen seelische. Immer wieder hört man von Selbstmorden und mancher, der von diesem Leben erlöst werden will, erhält von Iya im Auftrag des Stationsarztes Hilfe.


Ihr ganzes und einziges Glück ist der etwa dreijährige Paschka, der aber in Wirklichkeit nicht ihr Kind, sondern das ihrer Freundin Mascha (Vasilisa Perelygina) ist, die noch nicht von der Front zurückgekehrt ist. Manchmal nimmt sie ihn mit zur Arbeit. Dort bitten ihn Patienten quasi als Theatervorführung Tiere nachzuahmen. Doch als sie ihn auffordern, einen Hund zu imitieren, blickt Paschka nur verständnislos. Da erkennen die Patienten: Nie hat das Kind einen Hund gesehen oder gehört, denn die Menschen haben während der Belagerung alle Hunde gegessen. - Es sind solche Details, die den unermesslichen Schrecken des Krieges bewusst machen.


Eines Nachts erdrückt Iya aber Paschka unabsichtlich während eines ihrer Anfälle. Als Mascha aus dem Krieg zurückkehrt und vom Tod ihres Kindes erfährt, zwingt sie, da sie selbst aufgrund einer Kriegsverletzung unfruchtbar ist, Iya mittels Erpressung mit dem Stationsarzt ein Kind zu zeugen, das ihr nach der Geburt übergeben werden soll.


Mehr als auf Handlung setzt der erst 31-jährige Kantemir Balagow auf die Evokation einer dichten Atmosphäre. Nur wenig wird gesprochen, auf Filmmusik wird gänzlich verzichtet. Zurückhaltend ist auch die Tonspur, die immer wieder mit Momenten der Stille arbeitet, andererseits aber auch mit Radionachrichten Zeitstimmung beschwört.


In langen ruhigen Einstellungen, die aber auch immer wieder mit Kamerafahrten, die den Protagonist*innen folgen oder sie in Parallelfahrt begleiten, abwechseln, wird den Schauspieler*innen viel Zeit gelassen, um Spannung aufzubauen. Nicht nur perfekt kadriert sind diese Bilder, sondern wirken vor allem durch die Farbdramaturgie und bleiben haften. Dominieren am Beginn Braun- und Grüntöne, kommen später dunkles Rot der Wohnungstür oder leuchtendes Grün eines Kleides dazu.


Eine beklemmende Stimmung zieht sich durch den ganzen Film, fern scheint jede Hoffnung auf Glück. Da bemüht sich zwar der etwas unbeholfene junge Sascha um Mascha, doch dessen reiche, aber völlig gefühlskalte Mutter – offensichtlich eine hohe Parteifunktionärin - ist entschieden gegen diese Beziehung. – Keinen größeren Kontrast als den zwischen der engen Wohnung von Iya und Mascha und dem in einem großen Privatpark gelegenen Landhaus von Saschas Eltern kann man sich vorstellen: Das Volk kämpft ums Überleben, die Parteibonzen leben in Luxus. – Plakativ mag das sein, aber einprägsamer kann man die Verlogenheit des Sowjetregimes speziell unter Stalin nicht auf den Punkt bringen.


Aber auch Iya versucht Sascha los zu werden, möchte Mascha offensichtlich für sich allein haben. Nicht ganz zu durchschauen ist dabei Iya. Offen bleibt, ob ihr Verlangen nach Nähe zu Mascha aus dem Kriegstrauma und dem Fehlen jeglicher anderen Bezugsperson resultiert oder ob ein sexuelles Verlangen dahinter steckt.


Weder werden die konkreten Ursachen ihres Traumas ausformuliert, noch was hinter dem Nasenbluten von Mascha und Iya steckt. Balagow geht es ganz offensichtlich nicht darum Erklärungen zu liefern, sondern vielmehr das Publikum möglichst intensiv die psychischen Kriegsfolgen erfahren zu lassen.


Während die meisten anderen Filme von einer langsamen Lösung der Probleme erzählen, gibt es bei Balagow kaum Hoffnung auf eine glückliche Zukunft. Am Schluss steht zwar die Einsicht, dass die beiden Frauen in einer tristen Umwelt einzig sich selbst gegenseitig stützen können und müssen. – Aber ob das für eine Bewältigung des Lebens reicht, bleibt in diesem konzentrierten und dichten, kammerspielartigen Drama ungewiss.



Beanpole - Bohnenstange Russland 2019 Regie: Kantemir Balagow mit: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina Länge: 139 min.


Filmforum Bregenz im Metrokino Bregenz: Mi 6.4., 20 Uhr


Trailer zu "Beanpole - Bohnenstange" ("Dylda")



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