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AutorenbildWalter Gasperi

Atlantique


Mati Diop verbindet in ihrem in Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichneten Langfilmdebüt Sozialdrama und Geistergeschichte zu einem ebenso poetischen wie bildstarken traumhaften Film über Ausbeutung im Senegal, Flucht und weibliche Emanzipation.


Dokumentarisch wirkt der Beginn, wenn die Kamera mit direktem Zugriff und hautnah erfasst, wie die Arbeiter auf einer Großbaustelle in Dakar die Auszahlung des seit drei Monaten fälligen Lohns fordern. Der Vorarbeiter ist aber machtlos, denn der Bauherr hat ihm kein Geld zurückgelassen.

Surreal wirkt andererseits der mächtige (fiktive) Turm, an dem hier gearbeitet wird, erinnert eher an Dubai als an Afrika. In scharfem Kontrast steht dieses hypermoderne Hochhaus mit Namen „Muejiza Tower“ („Wunder Turm“) zu den Rinderherden, die daneben über ein Feld getrieben werden, den staubigen Straßen und den armseligen Gassen, in denen die Arbeiter wohnen.


Vielfach spielt Mati Diop mit solchen Gegensätzen, gerade daraus entwickelt „Atlantique“, für den die 1982 geborene Tochter einer Französin und des senegalesischen Musikers Wasis Diop ihren kurzen Dokumentarfilm „Atlantiques“ (2009) weiter entwickelte, Spannung. So stehen auch auf der Heimfahrt der Arbeiter dem schweigenden jungen Suleiman, auf dessen Gesicht die Kamera fokussiert, seine singenden Kollegen gegenüber. Eingeschnittene Bilder vom endlosen Atlantik können schon als seine Gedanken an eine Flucht übers Meer gelesen werden.


Wie Suleiman nämlich bei der Arbeit ausgebeutet wird, so winkt ihm auch im Privatleben kein Glück. Er liebt zwar die junge Ada, doch diese soll in wenigen Tagen mit dem reichen Omar verheiratet werden. Gegenpol zum bescheidenen Leben der Arbeiter bildet der Luxus Omars, der in Ledersesseln Cocktails genießt und Ada nebenbei ein i-phone schenkt.


Aber Ada legt auf diesen Reichtum nicht allzu viel Wert, ist lieber mit Suleiman zusammen. Den Nachmittag verbringen sie noch gemeinsam am Strand, doch als sie abends in die Bar geht, um ihren heimlichen Freund wieder zu treffen, muss sie erfahren, dass er mit anderen jungen Männern in einer Piroge übers Meer Richtung Spanien geflohen ist.


Unterstützung findet Ada in ihren Freundinnen, doch der Hochzeit kann sie sich nicht entziehen. Als dort das kitschig weiße Brautbett auf mysteriöse Weise in Flammen aufgeht, schaltet sich bald die Polizei ein, denn ein Hochzeitsgast behauptet den geflohenen Suleiman gesehen zu haben.


Auch Ada, die seltsame SMS erhält, glaubt, dass ihr Freund zurückgekehrt ist, obwohl berichtet wird, dass die Piroge in einer gewaltigen Welle gekentert sei und alle Insassen umgekommen seien. Gleichzeitig suchen auch die Frauen der Verstorbenen den Bauherrn in seiner Villa heim. Mit ihren blinden weißen Augen wirken sie wie Geister und fordern mit steigendem Nachdruck den Lohn, der ihren Männern vorenthalten wurde.


Mit Ausbeutung der Arbeiter, Unterdrückung der Frau und Flucht verhandelt Diop aktuelle Themen, bleibt aber nur im Setting und im Hintergrund realistisch. Auf der Erzählebene entwickelt die 37-Jährige dagegen durch das Spiel mit Licht und Farben, den Soundtrack, immer wieder abrupt eingeschnittene Bildern des Meeres, das in seiner Offenheit verheißungsvoll, gleichzeitig aber auch bedrohlich wirkt, und natürlich die geisterhaften Momente mit der imaginierten Rückkehr der Toten eine traumähnliche Stimmung.

Eine Atmosphäre wie in den Filmen des Thailänders Apichatpong Weerasethakul („Uncle Bonmee Who Can Recall His Past Lives”) oder auch von Claire Denis, in dessen „35 Rum“ (2008) Diop die weiblich Hauptrolle spielte, entwickelt sich so. Die Flucht übers Meer muss sie nicht zeigen, denn die Bilder, die sich dazu im Kopf des Zuschauers einstellen können, sind stärker als jede konkrete Darstellung. Einprägsamer und nachhaltiger als ein realer Protest, den man schon oft im Kino gesehen hat, wirkt auch die Heimsuchung des Bauherrn durch die geisterhaften Frauen.


Lange haften bleiben die im Smog aufragende Silhouette des Hochhaus-Turms, der im phallischen Charakter auch als Metapher für die Herrschaft der Männer gelesen werden kann, die in der Nacht glitzernden silbernen oder neonfarbenen Kleider von Adas Freundinnen, aber auch die grünen Lichtpunkte, die in der Bar auf Adas Körper fallen. Statt stringent zu erzählen, gibt sich Diop hier ganz der Magie des Augenblicks und des Raumes hin und entwickelt durch die Bildsprache sinnliches Kino von großer Kraft.


Nicht reale Dinge, sondern einzig die Erinnerung an Suleiman ist es so letztlich auch, die Ada hilft sich aus der patriarchalen Herrschaft zu befreien. Scheint sie sich nämlich zunächst in die Zwangsehe mit Omar zu fügen, so lehnt sie sich gerade nach dem Verschwinden Suleimans zunehmend dagegen auf. Die geisterhafte Präsenz ihres Freundes und die Erinnerungen an ihn scheinen ihr einen Weg in die Zukunft zu weisen, an dessen Ende ein selbstbestimmtes „Ich bin Ada“ steht.


Läuft derzeit im Kinok St. Gallen und im Skino Schaan.


Trailer zu "Atlantique"



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