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  • AutorenbildWalter Gasperi

Apples - Mila


Wie funktioniert Erinnerung? Wie wird Identität erzeugt? – Der Grieche Christos Nikou setzt sich mit diesen Fragen in seiner surrealen Tragikomödie lakonisch am Schicksal eines Mannes auseinander, der nach vollständigem Gedächtnisverlust sich mit einer neuen Therapie eine neue Identität aufbauen soll. – Ein herrlich schräges, sanft melancholisches Kleinod.


Grau ist die bestimmende Farbe in Christos Nicous Spielfilmdebüt, doch keine Tristesse wird damit erzeugt, sondern vielmehr zusammen mit der Wortkargheit des Protagonisten Aris, den Aris Servetalis mit großer Zurückhaltung spielt, und der Filmmusik von Alexander Voulgaris eine Stimmung der Melancholie. Einsamkeit evoziert auch die Abfolge statischer Einstellungen von Räumen und Möbeln einer Wohnung. Dazu hört man ein Klopfen, das sich als Schlagen des Kopfes von Aris gegen den Türrahmen entpuppt. Dem Mittvierziger geht es offensichtlich nicht gut, doch nichts erfährt man über die Gründe.


Man sieht ihn zunächst in seiner Wohnung, dann nach dem Kauf eines Blumenstraußes allein in einem Bus, in dem er einschläft. Als ihn der Fahrer bei Dienstschluss an der Endstation weckt, kann sich Aris nicht nur nicht darin erinnern, wohin er wollte, sondern weiß auch nicht mehr wo er wohnt und wie er heißt.


Kein Einzelfall ist dies, denn eine Epidemie grassiert in Griechenland, bei der Menschen abrupt und ohne Vorwarnung der Amnesie verfallen. Wer wie Aris keinen Ausweis bei sich hat, der Auskunft über die Identität gibt, wird ins Krankenhaus eingeliefert. Gedächtnistraining mit Memory bleibt aber ebenso erfolglos wie mit Musik, wenn er beispielsweise "Jingle Bells" das Bild eines Brautpaars zuordnet.


Da sich über längere Zeit auch keine Angehörigen melden, wird Aris wie auch anderen Patienten eine neue Therapie vorgeschlagen: sie erhalten eine Wohnung und bekommen dort Aufträge, deren Erledigung sie mittels Fotos dokumentieren sollen. So soll langsam eine neue Identität aufgebaut werden.


Surreal wirken freilich diese Aufträge. Denn als Aris dabei Fahrradfahren muss, fährt er mit einem Kinderrad auf einer Skaterbahn, muss sich dann bei einem Maskenball im Astronauten-Kostüm neben Catwoman, King Kong und Co. fotografieren, einen Horrorfilm im Kino anschauen, mit dem Auto einen Unfall verursachen und in einer Bar mit einer Zufallsbekanntschaft in der Toilette Sex haben.


Gesteigert wird dieser surreale Touch aber noch dadurch, dass "Apples" wie aus der Zeit gefallen wirkt. Da sieht man zwar moderne SUV, doch andererseits erhält Aris die Aufträge auf einem alten Kassettenrekorder, die Einrichtung der Wohnungen wirkt teilweise wie aus den 1960er oder 1970er Jahren teilweise heutig und es gibt keine Computer und Smartphones, sondern die Fotos werden mit einer alten Sofortbildkamera gemacht.


In seiner Schrägheit mag man vielleicht den Einfluss von Yorgos Lanthimos, bei dessen "Dogtooth" Nikou als Regieassistent begann, spüren, doch viel sanfter und schrullig statt bissig und kalt wie die Filme des derzeit wohl berühmtesten griechischen Regisseurs ist "Apples". Vielmehr lassen sich andere Vorbilder erkennen, die Nikou originell variiert. Denn die Dokumentation von Taten mit einer Sofortbildkamera erinnert unweigerlich an Christopher Nolans "Memento", die melancholische Stimmung und der einsame Mann an Spike Jonzes "Her". Das Surreale und das Spiel mit Vergessen und Erinnerung wecken wiederum Assoziationen an Michel Gondrys "Eternal Sunshine of the Spotless Mind".


Inspirieren ließ sich Nikou wohl von diesen Filmen, doch "Apples" hat nichts Epigonenhaftes, sondern ist ein absolut originärer und origineller Film. Mit Konzentration auf den Protagonisten, die durch das enge 4:3-Format noch gesteigert wird, geht der 37-jährige Grieche der Frage nach, welchen Stellenwert Erinnerungen bei der Bildung von Identität hat, fragt wie man sich überhaupt erinnert und ob man durch Erfahrungen und neue Erinnerungen eine neue Identität bilden kann.


Gleichzeitig legt Nikou aber auch zunehmend Fährten, die darauf hinweisen, dass Aris vielleicht allzu gerne vergisst und die Vergangenheit verdrängt. Da nennt er nämlich nicht nur einmal versehentlich seine alte Adresse, sondern er erkennt auch den Hund des Nachbarn, geht dessen Besitzer aber schnell aus dem Weg. Und er, der von Beginn an immer leidenschaftlich die titelgebenden Äpfel isst, stellt abrupt auf Orangen um, als der Verkäufer im Gemischtwarenladen erklärt, dass Äpfel das Gedächtnis fördern. Langsam schimmert so ein Trauma durch, doch Nikou hält seinen Film geschickt in der Schwebe, deutet an, aber formuliert nicht aus.


So kann man bei diesem filmischen Kleinod auch – muss aber nicht – in der Dokumentation aller Taten mit einer Sofortbildkamera eine Kritik an der heutigen Selfie-Leidenschaft sehen, während sich hinter der Amnesie vielleicht eine Flucht aus dem alten Leben und der Wunsch nach einem völligen Neustart verbirgt. - Dass dies freilich möglich ist, scheint Nikou zu bezweifeln.


Läuft derzeit in den Schweizer Kinos, z.B. im Kinok St. Gallen und im Skino in Schaan.


Trailer zu "Apples - Mila"



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