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AutorenbildWalter Gasperi

74. Berlinale: Komplexes Familiendrama und Minimalistisches von Hong Sang-soo

Aktualisiert: 25. Feb.

Matthias Glasner zeichnet in "Sterben" in drei Stunden mit großartiger Besetzung ein komplexes Porträt einer dysfunktionalen Familie. Gewohnt minimalistisch ist dagegen Hong Sang-soos "A Traveler´s Needs".


Wie persönlich Matthias Glasners Familiengeschichte "Sterben" ist, wird mit dem Schlussinsert "Meiner Familie, den Lebenden und den Toten gewidmet" spürbar. Im Dirigenten Tom Lunies (Lars Eidinger) kann man das Alter Ego Glasners sehen, doch im Zentrum stehen zunächst dessen Eltern.


Echt und authentisch wirkt, wie der 59-jährige Deutsche das Zusammenleben der Mutter Lissy (Corinna Harfouch) mit dem an Demenz leidenden und immer wieder nackt das Einfamilienhaus verlassenden Ehemann schildert. Schockierend ist schon der Einstieg, bei dem Lissy in der Küche im wahrsten Sinne des Wortes in der Scheiße sitzt und ihren Sohn Tom mit der Bitte um Hilfe anruft. Doch dieser reagiert kühl, erklärt, dass er momentan keine Zeit habe, mit Proben und dem Baby seiner Ex-Freundin, das nicht sein Kind ist, beschäftigt sei.


Erst als der Vater, nachdem Lissy nach einem Herzinfarkt ins Krankenhaus eingeliefert wurde, in ein Heim verlegt wird, besucht ihn Tom mit der Mutter einmal – und Glasner wechselt die Perspektive und erzählt nun von Toms Leben.


Mit einem Jugendorchester studiert dieser mit "Sterben" eine Komposition seines depressiven und von Selbstzweifeln geplagten Freundes Bernard (Robert Gwisdek) ein und bemüht sich gleichzeitig als Ersatzvater um das Baby seiner Ex-Freundin. Erst mit dem Tod seines Vaters kehrt der Film wieder zu Lissy zurück. Zu spät kommt Tom zur Beerdigung, doch heftig ist das anschließende Gespräch zwischen Mutter und Sohn am Essenstisch, in dem sie nicht nur von ihrer Krebserkrankung erzählt, sondern sie sich auch gegenseitig gestehen, dass sie sich nie geliebt haben.


Mit einem Schnitt wechselt der Film zur jüngeren Schwester Ellen (Lilith Stangenberg), die verkatert in einem Hotel in Lettland aufwacht, es dann aber doch noch nach Hamburg schafft, wo sie in einer Zahnarztpraxis als Assistentin arbeitet. Die schwere Alkoholikerin beginnt eine Affäre mit einem Assistenzarzt (Ronald Zehrfeld). Groteske Szenen ergeben sich im Suff in der Praxis und völlig aus dem Ruder läuft der Besuch des Konzerts ihres Bruders.


Die Perspektivenwechsel ergeben keine Wiederholung der Ereignisse aus anderer Sichtweise, sondern gering bleiben die Überschneidungen oder Verzahnungen, beschränken sich auf einzelne Telefonate oder kurze Begegnungen. Im Zentrum steht vielmehr jeweils die Geschichte der einzelnen Figur, wobei die geringen Überschneidungen freilich auch mit dem geringen Kontakt der einzelnen Familienmitglieder korrespondieren.


So geht "Sterben" mit seinen drei Protagonist:innen einerseits in die Breite, wirft durch seinen schonungslos ungeschönten Blick auf Familiensituationen aber das Publikum auch immer wieder auf sich selbst zurück und entwickelt durch die herausragenden Schauspieler:innen große Dichte.


Corinna Harfouch brilliert hier als gleichermaßen verzweifelte wie kalte Mutter ebenso wie Lars Eidinger als gefühlskalter Sohn und Lilith Stangenberg spielt sich förmlich die Seele aus dem Leib als psychisch schwer angeschlagene Tochter, die gerade als Protest gegenüber ihrem "Wow"-Dirigenten-Bruder den Beruf einer allseits wenig geliebten Zahnarztassistentin gewählt hat.


Nicht alles mag da passen, vor allem die grotesken Zahnarztszenen stören den sonst realistischen Gestus, doch beeindruckend ist, wie sicher Glasner die Fäden in der Hand hält, über 180 Minuten das Interesse an den Figuren aufrecht erhält und die Geschichten und Schicksale immer wieder zusammenführt.


Im Gegensatz zu diesem komplexen Familienbild setzt Hong Sang-soo wie in allen seinen Filmen auch in "A Traveler´s Need" auf Minimalismus. In langen, meist statischen, halbtotalen Einstellungen sieht er Isabelle Huppert als Französin in Korea zu, wie sie mit einer jungen Frau über ihren anstehenden Französisch-Unterricht spricht.


Außer dass sie Iris heißt und im Grunde keine Französischlehrerin ist, erfährt man nichts über die Figur Hupperts. Ohne Schminke wirkt der Star natürlich und gealtert, gleichzeitig erzeugen ihr rot gepunktetes kurzes Kleid, ihre grüne Strickjacke und ihr Strohhut aber einen Eindruck von Jugendlichkeit.


Nur über einen Nachmittag und drei Begegnungen erstreckt sich die Handlung. Auf das Gespräch mit der jungen Frau, die Iris nach einem Klavierspiel noch bohrend über ihre Emotionen beim Musizieren befragt, und einen gemeinsamen Besuch eines Parks mit einem Gedicht auf einen Felsblock, folgt ein Treffen mit einem Ehepaar. Die Frau hat nämlich ebenfalls Französischstunden bei Iris gebucht.


Hinreißend ist es zu verfolgen, wie sich hier die Dialoge und Ereignisse der ersten Begegnung wiederholen und leicht variiert werden. Statt Klavier wird so Gitarre gespielt und auf Hupperts anschließende Frage nach den Gefühlen erhält sie seltsamerweise genau die gleichen Antworten wie zuvor von der jungen Frau. Und auch diese Begegnung, bei der auch ausgiebig das alkoholische Getränk Makgeolli getrunken wird, endet in einem Park mit einem Gespräch über ein Gedicht auf einem Felsblock.


Einzig die dritte Begegnung fällt etwas aus dem Rahmen, wenn Huppert in die Wohnung eines jungen Mannes zurückkehrt, der sie als Untermieterin aufgenommen hat. Auch hier gibt es wieder eine Musikszene, doch ihr Gespräch wird bald durch die Ankunft der Mutter des jungen Mannes gestört, sodass Iris die Wohnung verlässt. Vor dem Haus stößt sie aber wieder auf ein Gedicht auf einer Tafel und wieder geht es schließlich in einen Park.


So passiert im Grunde nichts, und doch ist es immer wieder beglückend diesen Menschen beim Reden und Trinken zuzusehen, die Wiederholungen und kleinen Variationen zu verfolgen. Und obwohl scheinbar immer alles offen zu Tage liegt, hat man immer das Gefühl, dass hinter dieser Oberfläche in kleinen Details viel verborgen liegt, das "A Traveler´s Needs" nur durch genaues oder mehrmaliges Sehen preisgibt.



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